„Zu vergeben bedeutet, einen Gefangenen freizulassen und zu erkennen, dass dieser Gefangene du selbst warst.“
Lewis Benedictus Smedes
Lewis Benedictus Smedes (1921-2002) war ein Ethiker, Theologe und Autor christlicher Bücher. Er war 25 Jahre lang Professor für Theologie und Ethik.
Ein Vertrauensbruch und seine Folgen
Susanne (*) erlebte durch ihre Freundin Tanja (*) einen schwerwiegenden Vertrauensbruch. Sie erzählte ihr etwas sehr Vertrauliches und bat sie um eine Meinung. Doch wenige Zeit später war Susanne klar, dass Tanja das Vertrauen gebrochen hatte. Dadurch geriet Susanne an ihrer Arbeitsstelle in eine sehr unangenehme Situation. Da sie nur Tanja als einzige Person ins Vertrauen gezogen hatte, war sofort klar, wer das sehr Vertrauliche ausgeplaudert hatte. Susanne blieb keine andere Möglichkeit als Tanja den Vertrauensbruch anzulasten.
Die Beziehung zu Tanja war jetzt verständlicherweise massiv gestört. Schließlich war in Susanne „eine Welt zusammengebrochen“. Als sie Tanja unter vier Augen auf den Vorfall ansprach gab diese zögerlich zu, das Vertrauliche jemand erzählt zu haben. Es sei ihr in gelöster Stimmung bei einem Gespräch mit einer anderen Freundin irgendwie rausgerutscht. Tanja entschuldigte sich und drückte aus, dass es ihr sehr leidtue. Doch Susanne war in diesem Augenblick zu sehr verletzt und von ihr enttäuscht, um weiter mit ihr sprechen zu können.
Die Freundschaft ist belastet – wie damit umgehen?
Wie sollte Susanne jetzt weiter handeln? Sollte sie die Freundschaft beenden und den Kontakt zu Tanja vollständig abbrechen? Dies wäre denkbar, aber schwer möglich gewesen, da sie sich immer wieder begegneten. Hätten sie wortlos und mit abgewandten Blicken aneinander vorbeigehen sollen? Susanne wollte auch gar nicht bis zum äußersten gehen, da sie sich bisher immer gut verstanden und einander wertschätzten. Die Freundschaft mit Tanja hatte ihr bisher immer sehr viel bedeutet.
Sollte sich Susanne an Tanja rächen, nach dem Motto: „Wie du mir, so ich dir!“? Für Susanne wäre es ein Leichtes, auch über Tanja etwas Vertrauliches auszuplaudern. Schließlich hatten sie sich gegenseitig, bildlich gesprochen, ins Herz schauen lassen und wussten sehr viel voneinander. Dann würde Susanne kurzzeitig zwar ein Gefühl der Genugtuung erleben, aber die Freundschaft würde wohl zerbrechen. Und Susanne hätte sich gewissermaßen selbst Machtlosigkeit eingestanden. Der Kommunikationswissenschaftler und Psychotherapeut Paul Watzlawick formulierte es so: „Rache ist eine Handlung, die man begehen möchte, wenn und weil man machtlos ist: Sobald aber dieses Gefühl des Unvermögens beseitigt wird, schwindet auch der Wunsch nach Rache.“. Aber Susanne war nicht machtlos.
Wie könnte Susanne sonst noch mit der Verletzung in ihrer Seele umgehen? Natürlich könnte sie versuchen, den für sie schlimmen Vorfall einigermaßen zu übergehen. Mit der Zeit würde vielleicht „Gras über die Sache wachsen“ und die Zeit würde Wunden heilen. Aber wäre das wirklich so? Jedenfalls bliebe Susannes Vertrauen zu Tanja massiv gestört und die Freundschaft würde sehr wahrscheinlich deutlich oberflächlicher. Und Susanne würde sich gut überlegen, was sie Tanja überhaupt noch erzählt.
Freiwillige Entscheidung für Vergebung
Susanne kam schließlich zur Erkenntnis, dass es das Beste wäre, Tanja aus freiem Willen zu vergeben. Vergeben bedeutet, Tanja nicht weiter zu beschuldigen, und darüber hinaus, sie freizusprechen. Wer freigesprochen ist, der kann nicht mehr mit einer Schuld konfrontiert werden. Für Susanne bedeutete dies, loszulassen. Susanne ließ etwas los, was auch sie selbst belastete. Dadurch entlastete sie sich. Sie ließ, bildlich gesprochen, einen Gefangenen frei und realisierte, dass der Gefangene sie selbst war.
Ist man wirklich gefangen, wenn man nicht vergibt?
Susanne fühlte sich durch den Vertrauensbruch gekränkt, sicherlich zurecht. Was lag näher, als ins Grübeln zu geraten. „Warum nur habe ich Tanja in dieser Frage ins Vertrauen gezogen?“ ist stellvertretend nur eine der vielerlei selbstanklagenden Fragen, die sich Susanne gestellt gaben mag.
Vielleicht ging sie auch einen Schritt weiter und malte sich in Gedanken aus, wie sie es Tanja heimzahlen könnte. Es wäre ihr sicherlich sofort etwas eingefallen, wie sie hätte Tanja bloßstellen können.
Möglicherweise versuchte Susanne auch, sich in ihren Gedanken selbst moralisch aufzuwerten. Vielleicht bestätigte Susanne gedanklich gegenüber sich selbst, dass sie nie etwas weitertragen würde, was ihr unter dem Siegel der Vertraulichkeit anvertraut wurde. Dadurch stellte sie sich selbst moralisch über Tanja. Aber umso schmerzlicher wurde ihr dadurch gleichzeitig wieder bewusst, was ihr angetan wurde.
Ungelöste Konflikte binden emotionale Energie
Die Situation war nach wie vor ungelöst. Und solange sie ungelöst blieb, würde Susanne emotionale Energie binden, denn immer wieder würde sie sich gedanklich mit der Situation und ihren Folgen beschäftigen. Und dadurch würde sie außerdem auch wertvolle Zeit binden, die für das übrige Leben nicht mehr verfügbar ist. Bildlich gesprochen, würde sich Susanne selbst gefangen nehmen. Nach außen hin könnte sie so tun, als würde sie mit der Situation souverän umgehen können, aber gefangen wäre sie trotzdem.
Wenn sich im Lauf des Lebens immer mehr Kränkungen anhäufen, wird die Seele immer mehr befrachtet. Je mehr sich ansammelt, desto mehr emotionale Energie und wertvolle Lebenszeit werden gebunden.
Der Weg zur Verbitterung ist nicht weit
Durch wiederkehrende und unverarbeitete Kränkungen kann sich im Lauf der Zeit durchaus eine chronische Verbitterung entwickeln, oft verbunden mit selbstmitleidigem und passiv-aggressivem Verhalten. Immer wieder kreisen die Gedanken um das, was einem angetan wurde. Man findet keinen Ausweg mehr aus seinem inneren Gefängnis und dann fällt es auch sehr schwer, anderen zu vergeben. Verbitterung gilt im Allgemeinen als psychisch zerstörerischer als eine Depression oder eine Angststörung.
Wie kann der Weg zur Vergebung gefunden werden?
Susanne konnte ihre Erregung etwas abmildern. Sie machte sich bewusst, dass Tanja ein unvollkommener Mensch mit Stärken und Schwächen war, so wie sie selbst auch. Sie akzeptierte die menschliche Unvollkommenheit.
Ist man selbst nur Opfer – oder doch auch Täter?
Ohne Zweifel war Susanne das Opfer von Tanjas Indiskretion. Aber anderen Menschen gegenüber und in anderen Situationen wurde auch Susanne in der Vergangenheit selbst schon zur Täterin. Auch sie hatte schon Menschen seelisch verletzt, gekränkt, und sich schuldig gemacht.
Wenn beides betrachtet wird, die Opfer- und die Täterrolle in der eigenen Person, wird in gewisser Weise saldiert, gegeneinander aufgerechnet. Könnte es vielleicht sogar sein, dass Susanne insgesamt gesehen sogar öfter Täterin war als Opfer? Durch das Saldieren relativiert sich in gewisser Weise die Schuld anderer und man wird selbst eher bereit zur Vergebung.
Klärung im persönlichen Gespräch
Nachdem Susannes Erregung etwas abgeklungen war, konnte sie sich auf ein weiteres Gespräch mit Tanja unter vier Augen einlassen. Susanne ging von Vornherein davon aus, dass es keine beabsichtigte Bosheit war, die Tanja zu der Indiskretion veranlasste. Durch das Gespräch bekam Tanja eine Gelegenheit, sich zu erklären. Indem Susanne das Gespräch suchte, gab sie sich selbst eine Möglichkeit, besser zu verstehen, weshalb Tanja so gehandelt hatte. Hätte sie beispielsweise von Tanja erfahren, dass sie bei dem Zusammensein mit ihrer Freundin angeheitert war, könnte sie besser nachvollziehen, wie es zu der schwerwiegenden Indiskretion kam.
Susanne sagte Tanja deutlich, was sie so verletzt hatte. Dazu war sie bereit, weil sie Tanja immer noch vertraute. In Susannes Augen bestand die Freundschaft weiterhin; sie war allerdings gerade schwer belastet. Susanne ging ein Risiko ein, zeigte Schwäche und machte sich verletzlich. Schließlich hätte es sein können, dass Tanja doch keine Verantwortung für ihr Verhalten übernimmt.
Im persönlichen Gespräch bietet sich eine Möglichkeit, herauszufinden, was den Verletzenden zu der Kränkung bewogen hat. Und man kann den Verletzenden vielleicht sogar besser verstehen. Möglicherweise sah er sich in einer Art Notlage und versuchte sich durch die Kränkung eines anderen selbst zu schützen. Und dann eskalierte die Situation vielleicht.
Was wäre geschehen, wenn Tanja alles abgestritten hätte? Auch wenn schwer vorstellbar, vielleicht hätte es Tanja sogar nicht im Geringsten gekümmert, ob ihre Freundschaft in die Brüche geht. Selbst dann wäre Vergeben eine gute Wahl gewesen. In diesem Fall hätte Vergeben für Susanne bedeutet, sich selbst eine Last zu nehmen, die Tanja ohnehin nicht sieht.
Wenn kein persönliches Gespräch (mehr) möglich ist
Wie kann man jedoch einen Weg zur Vergebung finden, wenn der Verletzende nicht mehr greifbar ist oder es nicht (mehr) zu einer Klärung in einem persönlichen Gespräch kommen kann? Eine Möglichkeit besteht darin, eine Art „Wutbrief“ an den Verletzenden zu schreiben. Darin kann man alle seine Gefühle ausdrücken, die man während und nach der seelischen Verletzung empfunden hat. Man schreibt einfach alles auf, was einem in den Sinn kommt. Beim Schreiben denkt man nach, reflektiert, und ordnet seine Gedanken. Der fertige Brief wird nicht abgeschickt, sondern in einer Art Ritual vernichtet. Man kann beispielsweise den Brief verbrennen und dabei dem Verletzenden mit begleitenden, leise oder laut ausgesprochenen Worten vergeben.
Vergebung – ein Zeichen der Schwäche oder der Stärke?
Weder für Kränkung noch für Vergebung gibt es ein objektives Maß. Das Gefühl der Kränkung ist subjektiv. Deshalb kann auch Vergebung nur subjektiv sein.
Vergebung bedeutet endgültigen Verzicht. Man verzichtet bewusst auf Wiedergutmachung. Oft ist eine solche auch überhaupt nicht möglich. Tanja verursachte durch ihre Indiskretion einen nicht wiedergutzumachenden Schaden. Ihre Worte lassen sich nicht mehr zurückholen. Der Schaden ist angerichtet und könnte auch mit allem Geld der Welt nicht mehr ungeschehen gemacht werden.
Wäre Susanne von Tanja Geld gestohlen worden oder hätte diese einen ersetzbaren Gegenstand zerstört, läge der Fall einfach. Tanja bräuchte nur den Verlust mit Geld zu erstatten. Obwohl der materielle Verlust ausgeglichen ist, bedarf es jedoch immer noch der ausdrücklichen Vergebung.
Vergeben bedeutet nicht, dass Susanne nicht traurig darüber sein darf, was geschehen ist. Vergeben bedeutet auch nicht, einen „Freifahrschein“ auszustellen. Und Vergeben schließt nicht aus, dass Susanne sich abgrenzt. Es mag sein, dass sich Susanne erst einmal zurückhält, wenn es um Vertrauliches geht. Wenn Susanne den Eindruck hat, dass in der Freundschaftsbeziehung wieder Vertrauen gewachsen ist und es für sie stimmig ist, kann sie ihrer Freundin wieder etwas anvertrauen.
Vergeben ist kein Zeichen von Schwäche. Im Gegenteil: es ist ein Zeichen von Stärke. Wenn man souverän und freiwillig auf etwas verzichten kann, drückt man dadurch Stärke aus. Deshalb bedeutet Vergeben auch nicht, als Verlierer dazustehen. Mahatma Gandhi drückte es so aus: „Der Schwache kann nie vergeben. Vergebung ist ein Merkmal der Starken.“.
Letztendlich ist Vergeben etwas, das man für sich selbst tut, nicht für den Anderen. Man lässt sich selbst frei. Insofern ist Vergeben gesunde Selbstfürsorge.
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