„Der moderne Mensch wird in einem Tätigkeitstaumel gehalten, damit er nicht zum Nachdenken über den Sinn seines Lebens und der Welt kommt.“
Albert Schweitzer
Albert Schweitzer (1875-1965) war ein deutsch-französischer Arzt, Philosoph, evangelischer Theologe, Organist, Musikwissenschaftler und Pazifist. Schweitzer, der „Urwaldarzt“, gründete 1913 ein Krankenhaus in Lambaréné im zentralafrikanischen Gabun. Er veröffentlichte theologische und philosophische Schriften, Arbeiten zur Musik, insbesondere zu Johann Sebastian Bach, sowie autobiographische Schriften.
Tätigkeitstaumel in einer beschaulichen Welt?
Für heutige Ohren klingen Albert Schweitzers Worte wie aus einer anderen Welt. Zu seinen Lebzeiten war die Welt völlig anders als wir sie heute kennen. Bis in die 1960-er Jahre hinein konnten sich nur relativ wenige Menschen ein eigenes Auto leisten und waren deshalb auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. Der Luftverkehr war Menschen vorbehalten, die sich die teuren Tickets leisten konnten. Beispielsweise kostete ein Ticket für die einfache Strecke Hamburg-New York in der Touristenklasse damals um die 2.300 DM, etwa ein Drittel eines durchschnittlichen Jahresentgelts. Interkontinentalreisen wurden noch großenteils per Schiff unternommen.
Anfang der 1960-er Jahre, in den letzten Lebensjahren Albert Schweitzers, konnten sich laut Statischem Bundesamt nur 13 Prozent der Haushalte im früheren Bundesgebiet sowohl einen Kühlschrank als auch einen Fernseher und eine Waschmaschine leisten. Lediglich 14 Prozent der Haushalte besaßen ein Telefon (bidirektionale Kommunikation), aber immerhin 79 Prozent besaßen ein Radio und 34 Prozent einen Schwarz-/Weiß-Fernseher (beides unidirektionale Kommunikation).
Beschränktes Medienangebot
Das Programm des Deutschen Fernsehens startete am 25. Dezember 1952. Die erste Sendung der „Tagesschau“ konnte überhaupt nur von knapp 1000 Menschen empfangen werden. 1960 gab es schon über zwei Millionen Fernsehteilnehmer. In den folgenden Jahren stieg die Zahl stark an.
Beim Ersten Deutsche Fernsehen (ARD) begannen die Fernsehsendungen unter der Woche meist gegen 17:00 Uhr. Am 1. April 1963 nahm das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) offiziell seinen Betrieb auf. Sendebeginn war werktags um 18:40 Uhr. Sendeschluss war bei beiden Sendern in der Regel zwischen 23:00 Uhr und 24:00 Uhr.
In den 1960-er Jahren dominierte das Schwarz-Weiß-Fernsehen. Erst am 25. August 1967 begann die regelmäßige Ausstrahlung eines Farbfernsehprogramms. Die Bundesrepublik war damit seinerzeit in Europa Vorreiter. Allerdings besaßen damals nur etwa 6.000 Haushalte ein Farbfernsehgerät, das seinerzeit noch sehr teuer und für viele unerschwinglich war. Anfang der 1970-er Jahre wurde das Fernsehprogramm dann vollständig auf Farbe umgestellt.
Das Internet lag in den 1960-er Jahren noch außerhalb der Vorstellungskraft der meisten Menschen. Das Computer-Zeitalter hatte zwar schon begonnen, aber es gab nur relativ wenige Computersysteme, die vor allem bei größeren Unternehmen, in Behörden und in der Wissenschaft im Einsatz waren. Computer-Bildschirme gab es noch nicht. Lochstreifen und Lochkarten, die zum Lesen abgetastet und zum Schreiben perforiert bzw. gestanzt wurden, waren die Ein-/Ausgabemedien. Computer-Bildschirme wurden erst ab den 1970-er Jahren verbreitet eingesetzt.
Erst 1993 wurde der erste kostenlose Webbrowser (Mosaic) veröffentlicht und 1996 wurde der Begriff „Internet“ in den Duden aufgenommen. Soziale Medien, wie wir sie heute kennen, mit Facebook, Instagram, Twitter, WhatsApp und vielen mehr, lagen auch in den 1990-er Jahren noch völlig außerhalb der Vorstellungskraft der meisten Menschen.
Begrenzte Unterhaltungsmöglichkeiten
Welche Unterhaltungsmöglichkeiten gab es zu Lebzeiten Albert Schweitzers in der Bundesrepublik Deutschland? Im Wesentlichen konnte man ins Kino gehen, Präsenzaufführungen besuchen (Theater, Oper usw.) und Veranstaltungen besuchen (Volksfeste, Kirchweihfeste, Tanzveranstaltungen usw.). Wohnort und eigene Mobilität bestimmten wesentlich mit, welche Möglichkeiten man nutzen konnte. In einem ländlichen Gebiet waren die Möglichkeiten naturgemäß begrenzt. Wenn man beispielsweise in einem kleinen Dorf wohnte und der Weg zur nächsten größeren Stadt mit kulturellem Angebot weit war, war man im Wesentlichen auf das dörfliche Unterhaltungsangebot angewiesen.
Was würde Albert Schweitzer heute sagen?
Für heutige Begriffe lebte Albert Schweitzer in einer völlig anderen Welt. Dennoch empfand er, dass der damals moderne Mensch in einem Tätigkeitstaumel gehalten wird. Was würde er empfinden und sagen, wenn er in das heutige Leben eintauchen könnte? Vermutlich wäre er fassungslos. Ihn würden die heutigen Möglichkeiten, sich zu beschäftigen oder auch zu zerstreuen, vermutlich schlichtweg überwältigen.
An seiner grundsätzlichen Diagnose hätte sich, wenn er heute zu Wort kommen könnte, aber vermutlich nichts geändert. Der Mensch wurde schon zu seinen Lebzeiten in einem Tätigkeitstaumel gehalten, heute sind lediglich die Möglichkeiten dazu bedeutend vielfältiger. In diesem Sinne ist der Tätigkeitstaumel ein zeitloses Phänomen, da es zu allen Zeiten ausreichend Möglichkeiten gibt, sich vom Geist der jeweiligen Zeit jagen zu lassen und sich selbst gewissermaßen überzubeschäftigen.
In seinem 1923 erschienenen Buch „Verfall und Wiederaufbau der Kultur“ (Kulturphilosophie 1. Teil) schrieb er: „Ohne uns über die Welt und unser Leben ins klare kommen zu lassen, jagt uns der Geist unserer Zeit ins Wirken hinaus. Unablässig nimmt er uns für diese und jene Ziele und für diese und jene Errungenschaften in Dienst. Er erhält uns im Tätigkeitstaumel, damit wir ja nicht zur Selbstbesinnung kommen und uns fragen, was dieses rastlose Hingeben an Ziele und Errungenschaften eigentlich mit dem Sinn der Welt und dem Sinn unseres Lebens zu tun habe.“. Schweitzer sieht den modernen Menschen in seiner Überbeschäftigung mehr und mehr dem Bedürfnis nach äußerlicher Zerstreuung verfallen.
Der Mensch wolle sich als ein Nichtdenkender verhalten. „Nicht Bildung sucht er, sondern Unterhaltung, und zwar solche, die die geringsten geistigen Anforderungen stellt. […] Zeitschriften und Zeitungen haben sich in steigendem Maße in die Tatsache zu finden, dass sie alles nur in der leichtest fasslichen Form an den Leser heranbringen dürfen.“, schrieb er weiter. Lässt sich diese Diagnose Albert Schweitzers nicht auch in der heutigen Wirklichkeit bestätigen? Hätte es im Jahr 1923 Rundfunk und Fernsehen schon gegeben, hätte er diese Medien sicherlich ebenfalls angesprochen.
Müsste Albert Schweitzer seine Diagnose zurücknehmen, wenn er heute leben würde und vorhätte, eine Neuauflage seines Werks zu bewerkstelligen? Dafür gibt es keinen Grund, denn sie trifft nach wie vor zu. Er könnte sie unverändert beibehalten.
Tätigkeitstaumel – eine Flucht vor sich selbst?
Albert Schweitzer betrachtete den Tätigkeitstaumel als Hindernis, zum Nachdenken und zur Selbstbesinnung zu gelangen. Ist der Tätigkeitstaumel dann in der Konsequenz nicht eine Flucht vor sich selbst? Ist es nicht auch eine Flucht davor, seine eigenen Potenziale zu entdecken und sie auszuschöpfen?
Wenn man nachdenken und dafür Zeit investieren würde, so lautet der Umkehrschluss aus Albert Schweitzers Diagnose, würde man eher eine Antwort auf die Fragen nach dem Sinn der Welt und dem Sinn des eigenen Lebens finden können. Man würde sich mit seiner Berufung beschäftigen. Hat man eine Berufung und, wenn ja, welche ist es? Könnte die Berufung in eine Lebensaufgabe münden? Wenn ja, welche Lebensaufgabe möchte man sich vornehmen und sich mit ganzer Kraft dafür einsetzen?
Je früher im Leben man sich im Nachdenken diesen Fragen widmet, desto mehr und länger hat man die Möglichkeit, die persönliche Berufung und Lebensaufgabe mit Leben zu erfüllen. Und man gibt seinem Leben damit auch ein Ziel und Struktur.
Ist man dem Tätigkeitstaumel ausgeliefert?
In der Tat halten uns Medien, Werbeagenturen, Organisationen und so vieles mehr auf Trab. Es ist ohne weiteres möglich, sich den ganzen Tag lang berieseln zu lassen und sich den verschiedensten Aktivitäten hinzugeben. Für das Nachdenken über den Sinn des Lebens an sich und des eigenen Lebens bleibt dann keine Zeit mehr. Dann besteht die Gefahr, dass man gelebt wird und irgendwann entsetzt feststellt, dass man in seinem Leben – bildlich ausgedrückt – nur Staub, aber keine Spuren hinterlassen hat.
Die These, dass der Mensch in einem Tätigkeitstaumel gehalten wird, ist schwerlich zu widerlegen. Doch ist dieser Sog unüberwindbar? Oder kann man sich dem Tätigkeitstaumel entziehen, wenn man es wirklich möchte?
Wenn man dem Sog hilflos ausgeliefert wäre, hätte man selbst keine Entscheidungsmöglichkeit mehr bzw. eine Entscheidung gegen den Tätigkeittaumel bliebe wirkungslos. Albert Schweitzer und viele andere Menschen in Vergangenheit und Gegenwart legten und legen mit ihrem Leben Zeugnis dafür ab, dass man sich dem Tätigkeitstaumel durchaus nicht hilflos ergeben muss.
Es ist die freie Entscheidung eines jeden Menschen, wie man das persönliche Leben gestaltet. Natürlich ist der Entscheidungsraum begrenzt. Der berufliche Alltag verläuft oftmals durchaus hektisch und man muss konzentriert und intensiv arbeiten, um die beruflichen Anforderungen zu erfüllen. Diese Art von Tätigkeitstaumel hatte Albert Schweitzer jedoch nicht im Blick. Ihm ging es darum, wie man mit der disponiblen Zeit umgeht und wie man sie nutzt.
Im Internet lassen sich durchaus kluge Ratgeber finden, wie man dem Tätigkeitstaumel hinsichtlich des Faktors Zeit Einhalt gebieten kann. Man könnte sich beispielsweise vornehmen, private E-Mails nur noch zwei Mal oder gar nur einmal am Tag zu lesen und dann auch gleich zu beantworten. Oder man könnte sich hinsichtlich der Nutzung von Messenger-Diensten (z. B. WhatsApp, Signal, Threema usw.) selbst beschränken und nur zu bestimmten Zeiten kommunizieren. Oder man könnte den privaten Fernsehkonsum minimieren. Die Zahl der Stellschrauben, an denen man drehen kann, ist groß.
Was geschieht, wenn man sich dem Tätigkeitstaumel einfach hingibt?
Möglichkeiten zur Beschäftigung, Unterhaltung und Zerstreuung gibt es heute im Überfluss. Dank des Internet muss man dafür – anders als noch zu Albert Schweitzers Zeiten – noch nicht einmal den Fuß vor die Tür setzen. Man lebt die Rolle des Konsumenten, der aus dem überreichen Angebot das auswählt, was gerade am besten zu den Bedürfnissen und zur Stimmung passt.
Verzichtet man aber dann nicht darauf, eigenes Nachdenken zu praktizieren und hinsichtlich der eigenen Lebensgestaltung produktiv zu werden? Verzichtet man nicht darauf, geistige Freiheit zu leben? Und verpasst man es dann nicht, über den eigenen Lebenssinn nachzudenken und seine Lebensaufgabe zu entdecken? Man hätte sie entdecken können, wenn man sich Zeit zum Nachdenken genommen hätte. Und hätte man seine Lebensaufgabe entdeckt, hätte man seinem Leben ein Ziel und eine ganz andere Struktur geben können.
Würde man nicht sogar das Leben in seiner Fülle verpassen, wenn man sich dem Tätigkeitstaumel einfach passiv hingeben würde? Der Preis wäre hoch!
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