Man braucht vor niemand Angst zu haben. Wenn man jemanden …Lesezeit: 9 Min.

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„Man braucht vor niemand Angst zu haben. Wenn man jemanden fürchtet, dann kommt es daher, dass man diesem Jemand Macht über sich eingeräumt hat.“

Hermann Hesse
Man braucht vor niemand Angst, H. Hesse - Gestaltung: privat
Gestaltung: privat

Hermann Karl Hesse (1877-1962) war ein deutsch-schweizerischer Schriftsteller, Dichter und Maler. Sein umfangreiches dichterisches Werk brachte ihm 1946 den Nobelpreis ein. Er zählt in Deutschland zu den bekanntesten Schriftstellern. Seine Werke wurden in mehr als 50 Sprachen übersetzt.

Vor niemand Angst haben? Wirklich?

Angst scheint in Deutschland eine Art Volkskrankheit zu sein. Schon im Jahr 2010 waren 15 Prozent der Deutschen wegen krankhafter Angst bei einem Arzt. Es muss davon ausgegangen werden, dass die zu Angststörungen erhobenen Zahlen nicht sinken, sondern sogar eher noch steigen. In absoluten Zahlen ausgedrückt, bedeutet dies, dass aktuell weit mehr als 10 Millionen Menschen in Deutschland unter einer Angststörung leiden. Die Angststörung mit ihren vielerlei Formen (insbesondere Generalisierte Angststörung, Panikstörung, Agoraphobie (auch als Platzangst bezeichnet) und soziale Phobie) gilt als die mit am Häufigsten diagnostizierte psychische Störung.

Menschen, die beispielsweise unter einer sozialen Phobie leiden, versuchen Situationen zu vermeiden, in denen sie beobachtet oder bewertet werden könnten. Zu den vielerlei möglichen Ursachen einer sozialen Phobie zählen überhöhte Erwartungen an sich selbst, unangenehme Erfahrungen mit Mitmenschen (beispielsweise durch negative Werturteile, Demütigungen, Mobbing) und ein negatives Selbstbild.

Das Zitat entstammt Hermann Hesses 1919 zunächst unter dem Pseudonym Emil Sinclair veröffentlichten Roman „Demian“. Der Roman handelt von der Entwicklung des Jungen Emil Sinclair, der unter dem Einfluss seines Freundes Demian lernt, zu sich selbst zu finden. Er lernt, sich mit seinen dunklen Seiten zu akzeptieren, seinen Weg im Leben zu finden und zu einer eigenständigen Persönlichkeit zu werden.

Emil Sinclair erfährt in dem Roman, dass ein anderer Mensch Macht über ihn haben kann. Er erfindet eine Geschichte (er habe einen ganzen Sack Äpfel gestohlen), um die Anerkennung der Nachbarjungen und des Halbwüchsigen Franz Kromer zu gewinnen, um dazuzugehören. Franz Kromer erpresst ihn mit der Diebstahlgeschichte und verlangt Geld für sein Schweigen. Er zwingt Emil Sinclair, für ihn zu arbeiten, und macht ihn von sich abhängig.

Jemandem Macht über sich geben – wie kann dies aussehen?

Im Roman „Demian“ macht Emil Sinclair andere zu Mitwissern und räumt ihnen, insbesondere Franz Kromer, Macht über sich ein. Über das Abhängigkeitsverhältnis kann sich die Macht entfalten. Angst ist dann Ausdruck der Furcht, dass die Macht zum eigenen Nachteil ausgeübt wird.

Es gibt viele Situationen, in denen sich Menschen abhängig machen, mehr oder weniger freiwillig. Ein Beispiel ist wirtschaftliche Abhängigkeit. Jemand hat Macht über einen, dergestalt, dass man sich den Forderungen des Stärkeren fügen und beispielsweise seine Arbeitskraft zu marktunüblichen Bedingungen zur Verfügung stellen muss. Verweigert man sich, nimmt man den Absturz in die wirtschaftliche Armut in Kauf.

Ein weiteres Beispiel ist Abhängigkeit als Folge erstrebter Anerkennung durch andere. Wird diese Abhängigkeit vom Anderen ausgenutzt, kann sich Macht beispielsweise durch emotionale Erpressung ausdrücken. Wenn den Wünschen oder Forderungen einer Person gefolgt wird, wird dies mit Zuwendung belohnt. Anderenfalls wird Zuwendung entzogen.

Was bedeutet es, jemandem Macht über sich einzuräumen? Wenn jemand Macht ausüben kann, dann braucht es dafür einen Überlegenen und einen Unterlegenen. Der Unterlegene muss dem Überlegenen zu Willen sein – er kann sein Handeln nicht bzw. nur mehr oder weniger eingeschränkt frei bestimmen. In einer Beziehung auf Augenhöhe, wenn man in seinem Handeln frei ist, hat Macht hingegen keine Chance.

Gibt man freiwillig Macht über sich ab?

Wenn man jemandem Macht über sich einräumt, lässt man sich auf ein „Überlegener-Unterlegener“-Verhältnis ein. Sich selbst sieht man als den Unterlegenen. Doch nimmt man die Rolle des Unterlegenen immer freiwillig an? Sicherlich ist dies nicht so. Jedoch geschieht es oft als Folgewirkung. Im Roman „Demian“ hätte sich Emil Sinclair nicht in seine prekäre Lage gebracht, wenn er versucht hätte, Anerkennung auf andere Weise als durch eine Lüge zu gewinnen.

Macht – unfreiwillig abgegeben

Ein Drogenabhängiger, als Beispiel, wird das Abgeben von Macht über sich an einen oder mehrere Dealer sicherlich nicht als eine freiwillige Angelegenheit betrachten. Er hat sich dem bzw. den Dealern praktisch gezwungenermaßen ausgeliefert, denn es würden sich mehr oder weniger starke und schmerzhafte Entzugserscheinungen einstellen, wenn der Drogennachschub ausbleibt. Der erstmalige Gebrauch von Drogen geschah allerdings freiwillig und in eigener Verantwortlichkeit.

Es gibt viele weitere Beispiele für das unfreiwillige Abgeben von Macht. Die Abhängigkeit von Menschen ist dann oft mit Angstgefühlen verknüpft. Wer kann wissen, ob sich Menschen, von denen man aktuell abhängig ist, auch in Zukunft so verhalten, wie es derzeit der Fall ist? Immer schwingt auch Unsicherheit mit. Was würde beispielsweise geschehen, wenn auf einmal eine Gegenleistung verlangt wird (z. B. eine kriminelle Handlung), zu der man keinesfalls bereit ist?

Wenn man unfreiwillig Macht abgibt, befindet man sich mit dem Anderen nicht auf Augenhöhe. Und man drückt, bildlich gesprochen, einem Anderen die Fernbedienung in die Hand, mit der dieser eine Angstreaktion auslösen kann. Leider muss man davon ausgehen, dass der Andere, bildlich gesprochen, genau weiß, welchen Knopf er dazu drücken muss.

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Wenn du etwas nicht magst, M. Angelou - Gestaltung: privat
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Macht – freiwillig eingeräumt

In engen zwischenmenschlichen Beziehungen, wie beispielsweise einer Partnerschaft oder Freundschaft, gibt man freiwillig vieles von sich preis. Es mag sich um sehr Vertrauliches, ja sogar sehr Intimes, handeln. Dadurch wird der Andere gewissermaßen zum Mitwisser gemacht. Er weiß, was man gedacht und getan hat, und gewinnt dadurch Macht. Was könnte geschehen, wenn diese Macht ausgenutzt würde? Eine Ehefrau könnte, als Beispiel, in einem Moment der Wut auf ihren Ehemann ihr Wissen nutzen und dem Finanzamt einen Tipp geben, wenn sie weiß, dass ihr Ehemann massiv Steuern hinterzogen hat.

Wenn man in einer engen zwischenmenschlichen Beziehung freiwillig etwas von sich preisgegeben hat, dann geschah dies auf Basis einer Vertrauensbeziehung. Man ging davon aus, dass man dem Andern vertrauen kann. Umgekehrt muss es jedoch genauso sein. Eine Beziehung, in der der Andere vieles von einem weiß, man selbst jedoch nichts vom Anderen, wäre eine asymmetrische Beziehung. Ein Beispiel für eine asymmetrische Beziehung ist das Psychotherapeut-Klient-Verhältnis, wobei der Psychotherapeut wenigstens der Verschwiegenheitspflicht unterliegt.

Eine Beziehung auf Augenhöhe ist es, wenn beide einander Vertrauen schenken, sich mitteilen und auf diese Weise auch jeweils Macht über sich einräumen. Man liefert sich sogar einander gegenseitig aus. Im Hinblick auf eine Liebesbeziehung formulierte es Erich Fromm, Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe, in seinem Buchklassiker „Die Kunst des Liebens“ so: „Liebe heißt, dass wir uns dem Anderen ganz ohne Garantie ausliefern.“.

Enge zwischenmenschliche Beziehungen sind nicht möglich, ohne dass man sich gegenseitig Vertrauen schenkt und sich dadurch auch verletzlich macht. Es ist möglich, dass das Vertrauen im Lauf der Zeit einseitig verletzt wird. Und es ist möglich, dass es in der Folge zu einem Machtmissbrauch kommt.

Hat man freiwillig Macht eingeräumt, kann man sie auch ebenso aus freiem Willen wieder entziehen. Die „Scherben“ des Vertrauensverlusts und möglicherweise auch die des Machtmissbrauchs sind sichtbar, fühlbar und schmerzen. Aber es gibt keine Abhängigkeit mehr, wie es der Fall wäre, wenn man unfreiwillig hätte Macht über sich abgeben müssen.

Wie kann man es schaffen, vor niemand Angst zu haben?

Wie denkt man über sich selbst? Dies ist wohl die Schlüsselfrage. Hält man sich für weniger wertvoll als seine Mitmenschen? Und falls dies so ist, was sind die Kriterien? Sind es Leistungskriterien, auf deren Basis man sich mit anderen vergleicht? Kriterien in dieser Hinsicht wären beispielsweise die erreichte berufliche Position, der Jahresverdienst, die Anzahl der Fernreisen usw.

Sich keiner „Bewertungsmacht“ unterwerfen

Wenn man sich nur an Leistungskriterien orientiert, gibt man dann nicht auch Macht über sich ab – und dies sogar freiwillig? Es ist gewissermaßen „Bewertungsmacht“ über sich, die ihre Kraft aus dem Vergleichen gewinnt. Diese „Bewertungsmacht“, die sich durchaus zu einer zerstörerischen Macht entwickeln kann, räumt man anderen ein. Wer könnten diese anderen sein? Vielleicht sind es die Nachbarn, die Bekannten im Verein, die Kollegen in der Abteilung – die Aufzählung ließe sich fortsetzen.

Worin könnte die Furcht bestehen? Ist es eine Furcht, in Gunst und Anerkennung zu sinken? Ist es eine Furcht, nicht (mehr) gemocht zu werden? Wenn es so ist, wird diese Art Furcht durch das Vergleichen immer wieder angefacht.

Wenn man seine Wertigkeit nur an Leistung orientiert, stellt man sich selbst – sehr überspitzt ausgedrückt – auf die Stufe eines Nutztiers. Eine Kuh, als Beispiel, ist nur so lange nützlich, so lange sie ihre Milchleistung erbringt. Erbringt sie die geforderte oder dann noch tolerierte Leistung nicht mehr, wird sie nicht mehr gebraucht. Ihre nächste Station ist wahrscheinlich der Metzger.

Gutes und Sinnvolles tun – ganz praktisch

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Sich seiner Einzigartigkeit bewusst werden

Kann man sich selbst als einzigartiges und kostbares Individuum betrachten, das den Bewertungen seiner Mitmenschen von Vornherein entzogen ist? Etwas Einzigartiges lässt sich schließlich nicht vergleichen. Martin Buber, Religionsphilosoph, Pädagoge und Schriftsteller, drückte es so aus: „In jedermann ist etwas Kostbares, das in keinem anderen ist.“.

Das einzige wirksame Gegenmittel gegen Angst vor Menschen besteht darin, sich seine eigene Würde, Wertigkeit und Bedeutung bewusst klar zu machen – fernab von jeglichem Vergleichen. Man sieht sich selbst ganzheitlich, mit allen seinen Stärken und Schwächen. Dies bedeutet auch, sich zu sich selbst zu bekennen. In Hesses Roman kommt Demian so zu Wort: „Man hat nur Angst, wenn man mit sich selber nicht einig ist.“. Sich zu sich selbst bekennen resultiert in der Umkehrung der Aussage. Sie lautet dann etwa so: „Die Angst ist weg, wenn man mit sich selbst einig ist.“.

Man überlässt es nicht mehr anderen, über einen zu urteilen. Wenn man sich selbst seine Würde, Wertigkeit und Bedeutung bewusst macht und sich zu ihr uneingeschränkt bekennt, können sie andere nicht mehr schmälern. Dann verschwindet auch die Angst vor Ablehnung. Und sie kann verschwinden, bevor sie eine zerstörerische Wirkung entfaltet.

Mit einem gesunden Selbstwertgefühl, einer gesunden Selbstwertschätzung, im Rücken verändert sich auch der innere Dialog, wenn man mit anderen Menschen zu tun hat. Man empfindet sich auf Augenhöhe und das Vergleichen hat keinen Raum mehr.

Anmerkung: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde im Text die männliche Form gewählt. Dies ist nicht geschlechtsspezifisch gemeint.

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Ich bin Dieter Jenz, Begleiter, Berater und Coach mit Leidenschaft. Über viele Jahre hinweg habe ich einen reichen Schatz an Kompetenz und Erfahrung erworben. Meine Themen sind die "4L": Lebensaufgabe, Lebensplanung, Lebensnavigation und Lebensqualität.