„Wenn wir unsere Bedürfnisse nicht ernst nehmen, tun es andere auch nicht.“
Marshall B. Rosenberg
Marshall B. Rosenberg (1934-2015) war ein US-amerikanischer Psychologe. Er entwickelte das Konzept der Gewaltfreien Kommunikation (GFK), englisch: Nonviolent Communication (NVC). Dieses soll Menschen ermöglichen, dergestalt miteinander umzugehen, dass der Kommunikationsfluss auf Grundlage wertschätzender Beziehung zu mehr Vertrauen und Freude am Leben führt. 1984 gründete Rosenberg das gemeinnützige Center for Nonviolent Communication. Als Mediator war er international tätig.
Die eigenen Bedürfnisse ernst nehmen
Sonja (Name geändert) hat es nicht leicht. Sie kümmert sich um ihren erkrankten Mann und um eine weitere pflegebedürftige Angehörige. Dafür hat sie sogar ihre Arbeitsstelle aufgegeben. Zuweilen empfindet sie Wut und Aggression und wünscht sich, dass die Angehörige endlich stirbt.
Für Sonja besteht die Gefahr, ihre eigenen Bedürfnisse zu vernachlässigen und auf diese Weise sogar sich selbst zu verleugnen. Aber Sonja steuert dagegen. Sie gibt Beziehungen zu Freundinnen nicht auf und vernachlässigt ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen im Rahmen des Möglichen nicht. Und sie zieht ihre Grenzen dahingehend, was mit ihr zu machen ist und was nicht.
Sonja musste sich erst die eigenen Bedürfnisse bewusst machen, um sie ernst nehmen und für sich einstehen zu können. Dies ist keineswegs egoistisch, sondern gesunde Selbstfürsorge. Damit beantwortet sich auch die Frage: „Ist es nicht selbstsüchtig, sich um die eigenen Bedürfnisse zu kümmern?“. Nein, es ist nicht Selbstsucht, sondern Selbstfürsorge.
Welche Bedürfnisse hat man eigentlich – und wie gewichtet man sie?
Wenn man sich fragt: „Welche Bedürfnisse habe ich eigentlich?“, stößt man auf eine ganze Menge. Manche dieser Bedürfnisse, beispielsweise Nahrungszufuhr, sind elementar. Sie müssen befriedigt werden, da man sonst nicht überleben könnte. Andere wiederum sind nicht für das nackte Überleben notwendig, sind aber für die persönliche Entwicklung bedeutsam (z. B. Wertschätzung).
Die Maslowsche Bedürfnishierarchie
Der US-amerikanische Psychologe Abraham Maslow beschäftigte sich sehr intensiv mit menschlichen Bedürfnissen und Motivationen. Seine vereinfachende Darstellung einer Bedürfnishierarchie, gegliedert in fünf Kategorien bzw. Ebenen, wurde weltweit bekannt. Die Darstellung in Form einer Pyramide stammt jedoch nicht von ihm selbst, sondern ist eine Interpretation. Der grundlegende Gedanke, dass Bedürfnisse aufeinander aufbauen, wird dadurch jedoch recht gut veranschaulicht.
Physiologische Bedürfnisse
Die grundlegendsten physiologischen Bedürfnisse bilden die unterste Ebene. Zu diesen Bedürfnissen gehören nach Maslow sämtliche Grundbedürfnisse, die zum Erhalt des menschlichen Lebens erforderlich sind: insbesondere Nahrung, Flüssigkeit, Atmung, Licht, Wärme, Schlaf, Fortpflanzung, Kleidung und Witterungsschutz.
Sicherheitsbedürfnisse
Als nächsthöhere Ebene schließt sich die Ebene der Sicherheitsbedürfnisse an. Als Sicherheitsbedürfnisse gelten beispielsweise körperliche und seelische Sicherheit, Gesundheit, materielle Grundversorgung, Unterkunft bzw. Wohnung und Arbeit.
Soziale Bedürfnisse
Die weit gefächerten sozialen Bedürfnisse bilden die dritte Ebene. Der Mensch möchte in ein soziales Umfeld eingebettet sein. Zu diesem sozialen Umfeld zählen Familie, Freunde, Gruppen und Gemeinschaften. In diesem Umfeld möchte er Beziehung, Kommunikation, Gemeinschaft, gegenseitige Unterstützung, Zuneigung, Liebe und Intimität erleben. Und er möchte bestimmte soziale Rollen erfüllen und einen Platz in ein oder mehreren sozialen Gruppen einnehmen.
Individualbedürfnisse
Die vierte Ebene wird von den Individualbedürfnissen ausgefüllt. Zu den Individualbedürfnissen zählt Maslow u. a. Vertrauen, Anerkennung, Wertschätzung, Selbstbestätigung, Erfolg, Freiheit und Unabhängigkeit. Zum einen drückt sich ein aktiver Wunsch nach mentaler/körperlicher Stärke, Erfolg, Unabhängigkeit und Freiheit aus. Zum anderen gibt es eine passive Komponente, den Wunsch nach Ansehen, Prestige, Wertschätzung, Achtung und Wichtigkeit. Die Erfüllung dieser Komponente ist von den Mitmenschen abhängig.
Selbstverwirklichung
In der fünften Ebene geht es schließlich um den Wunsch nach Selbstverwirklichung. Der Mensch möchte seine Begabungen, Fähigkeiten und Kompetenzen, aber auch seine Kreativität, entfalten. Er möchte das, was ihm individuell gegeben ist, entlang seiner Ziele, Wünsche und Sehnsüchte möglichst weitgehend ausschöpfen und, bildlich gesprochen, zur vollen Blüte bringen.
Erweiterung: Selbsttranszendenz
Zu einem späteren Zeitpunkt erweiterte Maslow sein Modell um eine weitere Ebene, für die er den Begriff „Selbsttranszendenz“ wählte. Im Unterschied zur Selbstverwirklichung, die eher auf die individuelle Entwicklung und Entfaltung abzielt, geht es bei Selbsttranszendenz eher um das größere Ganze, nach einem Sinn jenseits der individuellen Entwicklung. Die persönlichen Bedürfnisse stehen nicht mehr im Vordergrund. Stattdessen geht es um menschliches Denken und Handeln, das die gemeinschaftliche und ganzheitliche Entwicklung der Welt im Blick hat.
Wie gewichtet man seine Bedürfnisse?
Ist das alles reine Theorie? Sicherlich nicht. Die von Maslow dargelegten menschlichen Bedürfnisse sind nicht aus der Luft gegriffen und die Bedürfnishierarchie widerspiegelt im Allgemeinen die Gewichtung von Bedürfnissen im westlichen Kulturkreis. In anderen Kulturkreisen, in denen eine Einbindung in ein bestimmtes soziales Gefüge (beispielsweise Familienverbund, ethnische Gruppe) einen deutlich höheren Stellenwert einnimmt, werden soziale Beziehungen eher als elementare Bedürfnisse betrachtet. Beispielsweise können soziale Beziehungen Voraussetzung für Sicherheit sein (beispielsweise gibt der Familienverbund Sicherheit). Menschen werden sich dementsprechend eher um soziale Beziehungen bemühen.
Wie man seine Bedürfnisse gewichtet, ist eine individuelle Angelegenheit. Vielleicht gewichtet man das Bedürfnis nach materieller Grundversorgung sehr gering, weil man sich einem bestimmten politischen Ziel mit ganzer Hingabe widmet. Oder man strebt vielleicht besonders nach Selbstverwirklichung, beispielsweise als Künstler, und gewichtet dieses Bedürfnis höher. Dabei begibt man sich in eine gedankliche Auseinandersetzung, welche Bedürfnisse für einen wirklich wichtig sind. So entsteht eine ganz individuelle Bedürfnishierarchie.
Die Bedürfnisse bleiben keineswegs ein ganzes Leben lang konstant. Sie und ihre Gewichtung können sich mit der jeweiligen Lebenssituation verändern. Vielleicht waren einem eben noch die im Zusammenhang mit Selbstverwirklichung stehenden Bedürfnisse sehr wichtig. Doch dann ging plötzlich und unvorhersehbar der Arbeitsplatz verloren und man musste sich wieder um das Bedürfnis nach einem regelmäßigen Einkommen kümmern.
Was geschieht, wenn man seine Bedürfnisse nicht ernst nimmt?
Was bedeutet es, die eigenen über die elementaren Bedürfnisse hinausgehenden Bedürfnisse nicht ernst zu nehmen? Zum einen würde man sich damit eingestehen, dass man sich selbst nicht für wichtig und wertvoll hält. Zumindest hält man sich nicht für so wertvoll wie seine Mitmenschen. Und man vernachlässigt sich dadurch selbst. Zum anderen würde man es zulassen, von anderen vereinnahmt zu werden, denn man setzt kaum Grenzen.
Wohin würde Sonja steuern, wenn sie ihre eigenen Bedürfnisse nicht ernst nehmen würde? Sehr wahrscheinlich würden ihre sozialen Beziehungen leiden. Vielleicht würde sie sogar langsam in die soziale Isolation abdriften. Unzufriedenheit mit dem Leben und sich selbst wären ein ständiger Stachel in der Seele. Wut und Aggression würden sich wahrscheinlich im Lauf der Zeit immer weiter steigern. Müdigkeit und Depressionen könnten damit einhergehen.
Im schlimmsten Fall könnte am Ende sogar Gewalt gegen die zu pflegenden Personen stehen. Aktive Gewalt könnte sich in roher Behandlung äußern. Wahrscheinlicher wäre jedoch passiv-aggressives Verhalten, beispielsweise durch Schweigen. Und bei Sonja könnte es irgendwann zu einem Zusammenbruch aufgrund ständiger Überlastung kommen.
Ist Selbstlosigkeit immer echt?
Es gibt Menschen, die ihre eigenen Bedürfnisse dauerhaft hintenanstellen und sich für andere förmlich aufopfern. Sie gehen über ihre Grenzen und erscheinen als selbstlos. Doch ist diese Selbstlosigkeit immer echt?
Der Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe Erich Fromm weist in seinem Klassiker „Die Kunst des Liebens“ auf die neurotische Selbstlosigkeit hin. Er schreibt: „Der solcherart Selbstlose »will nichts für sich selbst«; er »lebt nur für andere«; er ist stolz darauf, dass er sich selbst nicht wichtig nimmt. Er wundert sich darüber, dass er sich trotz seiner Selbstlosigkeit unglücklich fühlt und dass seine Beziehungen zu denen, die ihm am nächsten stehen, unbefriedigend sind. Bei der Analyse stellt sich dann heraus, dass seine Selbstlosigkeit sehr wohl etwas mit seinen anderen Symptomen zu tun hat und dass sie selbst eines dieser Symptome und sogar oft das wichtigste ist; der Betreffende ist nämlich überhaupt in seiner Fähigkeit, zu lieben oder sich zu freuen, gelähmt; dass er voller Feindschaft gegen das Leben ist und dass sich hinter der Fassade seiner Selbstlosigkeit eine subtile, aber deshalb nicht weniger intensive Ichbezogenheit verbirgt.“.
Was bedeutet es, für sich einzustehen?
Wir dürfen in der Tat nicht erwarten, dass andere Menschen unsere Bedürfnisse respektieren, wenn wir uns selbst vernachlässigen. Wenn wir unsere Bedürfnisse nicht ernst nehmen, begegnen wir uns selbst nicht wertschätzend.
„Wenn andere doch nur ein wenig Rücksicht auf mich nehmen würden!“. Solche oder ähnliche Wünsche sind von Menschen, deren eigene Bedürfnisse kontinuierlich zu kurz kommen, immer wieder zu vernehmen. Doch darf anderen Menschen verübelt werden, dass sie gerne den einfachen Weg gehen und Bedürfnisse ihrer Mitmenschen nicht ernst nehmen (wollen)? Das reale Leben zeigt, dass Menschen im Allgemeinen so handeln und gerne andere für ihre Wünsche, Ziele und Zwecke einspannen. Somit bleibt: die eigenen Bedürfnisse ernst nehmen und für sie einstehen.
Wenn man für sich einsteht, hat dies zur Folge, dass Grenzen gesetzt werden müssen. Man grenzt sich so ab, dass die eigenen Bedürfnisse in einem individuell akzeptablen Maß befriedigt werden können. So handelt auch Sonja. Natürlich könnte sie in der Pflege vollständig aufgehen und sich verausgaben. Aber sie sorgt in einer guten Weise für sich selbst. Sie sucht immer wieder nach praktikablen Lösungen, damit sie sich in der Pflege entlasten kann und Raum für ihre eigenen Bedürfnisse bleibt.
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