„Der einzige Weg, einen Freund zu haben, ist einer zu sein.“
Ralph Waldo Emerson
Ralph Waldo Emerson (1803-1882), war ein US-amerikanischer Philosoph und Schriftsteller. Er engagierte sich für soziale Reformen, wie beispielsweise das Frauenwahlrecht. Außerdem sprach er sich gegen die Sklaverei aus.
Freunde – manches verbindet, manches nicht
Dirk (*) und Erik (*) sind Freunde. Ihre Freundschaft besteht schon seit Jahren. Sie sehen sich gelegentlich und manchmal wandern sie gemeinsam. Das ist ein gemeinsames Hobby. Und seit einiger Zeit sind sie ehrenamtlich bei derselben Organisation tätig.
Wenn sie miteinander unterwegs sind, sprechen sie auch über „Eingemachtes“, sehr persönliche Dinge. So kommt es, dass jeder auch viel über die Schattenseiten des Anderen weiß. Jeder der beiden vertraut darauf, dass der Andere Vertraulichkeit wahrt.
Obwohl sie vieles miteinander gemein haben, so haben Dirk und Erik bei weitem nicht in allen Dingen dieselben Ansichten. Beispielsweise sind sie in weltanschaulichen und politischen Dingen oft durchaus sehr unterschiedlicher Meinung. Die Freundschaft wird dadurch nicht gefährdet, denn sie achten die Einstellung oder Meinung des Anderen, auch wenn man selbst völlig anders denkt und sie nicht wirklich gutheißt.
Einer ist dem Anderen ein Freund, lässt dem Anderen Freiraum. Gleichzeitig ist die gegenseitige Verbundenheit spürbar.
Was sind die Anforderungen an einen Freund/eine Freundin?
Wenn man sich eine Freundschaft wünscht – an dieser Stelle ist keine Liebesbeziehung gemeint – hat man sicherlich bestimmte Vorstellungen. Der Freund bzw. die Freundin soll bestimmte Anforderungen erfüllen. Welche sollen das sein? Welche Erwartungen und Wünsche hat man?
Im Vordergrund stehen sicherlich Charaktermerkmale und Werte, die der Freund bzw. die Freundin haben und verkörpern soll. Häufig genannte Charaktermerkmale und Werte sind: Achtung, Aufrichtigkeit, Charakterstärke, Ehrlichkeit, Einfühlsamkeit, Fairness, Freiheit, Freundlichkeit, Herzlichkeit, Hilfsbereitschaft, Humor, Loyalität, Nähe, Nachsichtigkeit, Toleranz, Treue, Unterstützung, Verschwiegenheit, Vertrauen und Zuverlässigkeit.
Hinzu können weitere Kriterien kommen, wie beispielsweise Bildung, Intelligenz, Interessen, Hobbies usw. Auch diese Kriterien können eine wichtige Rolle spielen.
Beim konkreten Nachdenken wird sich eine Art „Wunschprofil“ ergeben. In einem zweiten Schritt kann man den einzelnen Punkten ein „muss“ oder ein „soll“ zuordnen. Damit drückt man aus, wie wichtig einem ein bestimmter Punkt ist. Ist beispielsweise Humor ein „muss“ oder ein „soll“, also kein Ausschlusskriterium?
Der Nachfrage ein adäquates Angebot gegenüberstellen
Am Ende steht ein Wunschprofil des gesuchten Freundes bzw. der gesuchten Freundin. Jetzt kann man dieses Wunschprofil im Sinne von „ich biete“ auf sich selbst anwenden. Will man selbst all das oder zumindest weitgehend das bieten, was man sich vom gesuchten Freund bzw. der gesuchten Freundin wünscht? Falls nicht, würde die Freundschaft von vornherein an einem Ungleichgewicht leiden. Sie würde sich nicht in die Tiefe entwickeln können.
Zwei Menschen begegnen sich. Sie „beschnuppern“ einander, empfinden gegenseitige Sympathie und Zuneigung. Die Freundschaft entwickelt sich in die Tiefe, weil man bereit ist, zu geben, was man sich vom Anderen wünscht. Man ist dem bzw. der Anderen ein Freund bzw. eine Freundin.
Freund sein bedeutet eine Investition
Das Leben verläuft nie geradlinig. Die Zukunft ist nicht vorhersehbar. Da scheint alles auf einem guten Weg zu sein, alles läuft so, wie es sollte, doch plötzlich stellt ein Schicksalsschlag das Leben gewissermaßen „auf den Kopf“. Wie wirkt sich dies auf die Beziehung „Freund haben – Freund sein“ aus?
Dirk brauchte viele Jahre bis ihm klar wurde, was es bedeuten kann, ein Freund zu sein und dadurch einen Freund zu haben. Ihm kam es mehr darauf an, Beziehungen aufzubauen, die ihm nützlich waren. An Freundschaften dachte er weniger. Davon abgesehen hatte er Angst davor, dass sein Vertrauen missbraucht werden könnte. In seinem bisherigen Leben hatte er schon einige Situationen erlebt, aus denen er die Lehre zog: Sei vorsichtig mit deinem Vertrauen! Deshalb investierte er auch nicht in den Aufbau von freundschaftlichen Beziehungen, die mehr in die Tiefe gingen.
Nach Jahren erlebte Dirk beruflich eine sehr schwierige Phase. Er stand vor schwerwiegenden Entscheidungen. Die Probleme erreichten ein derartiges Ausmaß, dass er sogar an Selbstmord dachte. Nach außen hin versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen und äußerte sich doppeldeutig. „Ich kann nicht besser klagen“, so oder ähnlich antwortete er, wenn er von anderen gefragt wurde, wie es ihm denn gehe.
Jetzt hätte er gerne einen Freund gehabt, mit dem er seine Probleme und Sorgen vertrauensvoll hätte besprechen können. In seiner damaligen Situation hätte es ihm bestimmt geholfen, eine andere Stimme zu hören, die seiner eigenen Schwarz-/Weiß-Sicht etwas entgegengesetzt hätte. Vielleicht hätte er einen Freund um Rat gefragt und dieser hätte möglicherweise einen Aspekt einbringen können, auf den er selbst nicht oder nicht ohne Weiteres gekommen wäre.
Doch nun hatte Dirk keinen Freund. Er hatte zwar in gewisser Weise in den Aufbau eines Beziehungsnetzwerks investiert, aber nicht in Freundschaften. Dies wurde ihm schmerzlich bewusst.
Dirk konnte seine schwierige Lebensphase durchstehen und mit seinem Leben wieder in besseres „Fahrwasser“ gelangen. Nun, schon nicht mehr ganz der Jüngste, nahm er sich vor, in Freundschaften zu investieren.
Freund sein in den Wechselfällen des Lebens
Im Lauf der Zeit gelang es Dirk, einige freundschaftliche Beziehungen aufzubauen, die auch eine gewünschte Tiefe erreichten. Ihm wurde klar, dass er gewissermaßen in Vorleistung gehen musste. Wenn er nur darauf gewartet hätte, dass andere auf ihn zugehen, hätte er wohl den Rest seines Lebens vergeblich gewartet. Schließlich war er als jemand bekannt, der andere eher auf Distanz hielt und sie nicht wirklich an sich heranließ. Also ergriff er selbst die Initiative.
Dirk wollte und will freundschaftliche Beziehungen auf Augenhöhe. Wohl die meisten seiner Mitmenschen wollen dies auch. Es soll eine Freundschaft sein, in der beide geben und nehmen. Eine Art „Therapeut-Hilfsbedürftiger-Beziehung“, in der der eine überwiegend gibt und der andere überwiegend nimmt, wäre schon keine wirkliche Freundschaft mehr.
Was wäre für diesen Aspekt des Freund-seins, die Beziehung auf Augenhöhe, wichtig? Eine vorübergehende „Unwucht“ in einer freundschaftlichen Beziehung lässt sich nicht vermeiden, beispielsweise wenn man selbst oder der Freund einen schweren Schicksalsschlag verkraften muss, wie etwa den Tod eines Kindes. Aber die Beziehung soll auch schwierige Zeiten überstehen und man möchte dem Freund ein Freund im besten Sinne sein und bleiben. Und die Beziehung soll wieder auf Augenhöhe „zurückschwingen“.
Dass in einer freundschaftlichen Beziehung alles Besprochene strikt vertraulich bleibt, versteht sich von selbst. Würde das Vertrauen gebrochen, wäre die freundschaftliche Beziehung schwer geschädigt.
Empathisch zuhören
Nicht nur in schwierigen Zeiten wünscht sich ein Freund, mit Einfühlungsvermögen (Empathie) wahrgenommen, gehört und verstanden zu werden. Es geht immer auch darum, sich gewissermaßen in die Schuhe des Freundes hineinzuversetzen und ihn nicht zu verurteilen. So vermittelt man: „Was immer du sagst oder nicht sagst – ich verurteile dich nicht!“
Für den Freund verändert sich etwas, wenn er etwas ungeschützt aussprechen kann. Der Schriftsteller Hermann Hesse drückte es so aus: „Es wird immer alles gleich ein wenig anders, wenn man es ausspricht.“. Man lässt den Freund einfach da sein, lässt ihn reden, nimmt seine Gefühle und Empfindungen wahr und lässt sie präsent sein. Man lenkt nicht ab und unternimmt auch keine Versuche, diese Gefühle und Empfindungen auszureden.
Keine Ratschläge geben
Über die Zeit hinweg hat man den Freund kennengelernt. Man kennt seine Lebensumstände, seine Stärken und Schwächen. Und wenn der Freund dann etwas besprechen möchte, glaubt man, ihm einen guten Rat geben zu können. Dabei meint man es ja nur gut, denn man kann eine Perspektive einbringen, die der Freund vielleicht so noch überhaupt nicht sieht.
Lässt man sich dazu hinreißen, einen vermeintlich guten Rat zu geben, übernimmt man ein Stück weit Verantwortung. Angenommen, der Freund befolgt den Rat und dadurch entsteht ihm letzten Endes kein Nutzen, sondern Schaden. Dann gibt es gewissermaßen zwei Leidende. Der Freund leidet, weil er den Schaden zu tragen hat, und man selbst leidet auch, weil man den Schaden zwar nicht selbst, aber doch mittelbar verursacht hat.
Der Psychologe Marshall B. Rosenberg drückte es etwas drastisch aus: „Wenn es darauf hinausläuft, einen Rat zu geben, dann tue es niemals, es sei denn, du hast zuerst eine von einem Anwalt unterzeichnete schriftliche Aufforderung dazu erhalten.“ Ein Rat kann in der Tat gefährlich sein, sowohl für den Ratsuchenden als auch für den Ratgeber.
Sehr viel hilfreicher ist es, mögliche Entscheidungsalternativen und Konsequenzen aufzuzeigen. Dies hilft dem Freund, die Gedanken zu sortieren und das Für und Wider abzuwägen. Die Verantwortung für die Entscheidung bleibt vollständig bei ihm.
Sich abgrenzen
Es mag sein, dass der Freund ein schwerwiegendes Problem besprechen möchte, mit dem weitreichende Entscheidungen verknüpft sind. Nicht ungewöhnlich wäre es, wenn sich der Freund unsicher ist, welchen Weg er gehen soll. Möglicherweise kommt er immer wieder auf ein Thema zurück, das bereits eingehend besprochen wurde, vielleicht auch mehrmals.
Vielleicht beginnt man irgendwann damit, einen Groll zu entwickeln, weil immer wieder dasselbe Thema erörtert wird und kein wirklicher Fortschritt erkennbar ist. Um dies zu vermeiden, darf man sich selbst zugestehen, sich in einer guten Weise abzugrenzen. Man möchte den Freund ja nicht verletzen. Eine Möglichkeit, sich in einer guten Weise abzugrenzen, wäre die Frage: „Was hat sich seit unserem letzten Gespräch verändert?“, gefolgt von der Bitte: „Lass uns auf das konzentrieren, was sich verändert hat.“
Präsent sein, aber eigene Grenzen achten
Eine wahre Freundschaft zeichnet aus, dass man für den Freund da ist, notfalls auch mitten in der Nacht. Die Schauspielerin und Sängerin Marlene Dietrich (1901-1992) drückte es so aus: „Die wahren Freunde sind die, die man morgens um vier Uhr anrufen kann.“ Dennoch ist man es sich selbst schuldig, auf seine eigenen Grenzen zu achten, damit man sich nicht selbst überfordert.
* Name geändert
Anmerkung: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde im Text die männliche Form gewählt. Dies ist nicht geschlechtsspezifisch gemeint.
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