„Eine Depression ist wie eine Frau in schwarz. Wenn sie auftaucht, scheuche sie nicht fort. Lade sie ein, biete ihr einen Sitzplatz an, behandle sie wie einen Gast und höre zu, was sie sagen möchte.“
Carl Gustav Jung
Carl Gustav Jung (1875-1961), war ein Schweizer Psychiater und der Begründer der analytischen Psychologie. In dieser von ihm begründeten analytischen Psychotherapie ist die Auseinandersetzung mit unbewussten Aspekten der Psyche, wie sie z. B. in den psychischen und somatischen Krankheitssymptomen, in Träumen, Fantasien und Symbolen zum Ausdruck kommen, ein wichtiger Bestandteil.
Erfahrungen mit der „Frau in schwarz“
Carl Gustav Jung ging ab 1913, damals im Alter von fast 40 Jahren, selbst durch eine mehrere Jahre andauernde tiefe persönliche Krise. Er durchlebte eine Phase der Desorientierung, die manche als eine depressive Episode, manche als eine psychotische Phase und manche als überhaupt keine psychische Erkrankung deuteten.
1913 begann er ein Experiment mit sich selbst, das später als „Auseinandersetzung mit dem Unbewussten“ bekannt wurde. Während dieser Zeit verwendete er viel Zeit in die Analyse seiner selbst und hielt vieles in seinem sogenannten „Roten Buch“ fest, das erst 2009 veröffentlicht wurde.
Es darf vermutet werden, dass Jung die „Frau in schwarz“ selbst kannte und erlebte. Wie viele Menschen, die eine depressive Episode durchleben, stand vermutlich auch er vor der Wahl zwischen den Alternativen „Reiß‘ dich zusammen und kämpfe dagegen an“ und „Wehre dich nicht dagegen“.
Eine Depression ist keine Ausnahmeerscheinung
Laut Prof. Arno Deister, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), tritt bei etwa 15 bis 20 Prozent der Deutschen im Laufe ihres Lebens eine depressive Symptomatik auf. Die Schätzungen können nur sehr grob sein. Viele Depressive verdrängen die Depression, versuchen zumindest, sie aus Angst vor einem sozialen Stigma alleine zu besiegen und den Anschein der Normalität zu bewahren. Meist gelingt dies jedoch nicht und die Depression wird lediglich verschleppt und im Endeffekt oft sogar verschlimmert.
Seelische und körperliche Symptome
Wenn es einem psychisch gerade nicht so gut geht, stellt sich natürlich die Frage, ob man es mit einer vorübergehenden Niedergeschlagenheit zu tun hat oder ob es sich tatsächlich um eine Depression handelt. Man kann für sich selbst eine erste grobe Orientierung gewinnen, denn es gibt einige Anzeichen, die auf eine Depression hindeuten. Die drei wichtigsten sind:
- gedrückte, depressive Stimmung,
- mangelnder Antrieb und Ermüdbarkeit, Aktivitätsverlust,
- nachlassendes Interesse und Freudlosigkeit.
Wenn zwei dieser drei Anzeichen länger als zwei Wochen bestehen, kann dies auf eine Depression hinweisen.
Eine Depression kann sich auch in körperlichen Symptomen zeigen. Das sind beispielsweise anhaltende Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Schwindelgefühle, Atembeschwerden, Magen-Darm-Probleme, sowie Appetit- und Gewichtsverlust. Die Seele macht sich auch über den Körper bemerkbar.
Depression als schwarz gekleidete Frau
Die „Frau in schwarz“ macht sich bemerkbar. Sie möchte wahrgenommen und gehört werden. Doch möchte man ihr auch Gehör schenken? Unwillkürlich neigt man dazu, sie abzuwehren. Allerdings lässt sich die „Frau in schwarz“ durch eine Verdrängungs- und/oder Verschleppungstaktik in den meisten Fällen nicht verscheuchen. Wenn jedoch professionelle Unterstützung in Anspruch genommen wird, lässt sich mit therapeutischer Hilfestellung einiges darüber herausfinden, was sie sagen möchte.
Weshalb ist die Frau schwarz angezogen?
In der westlichen Hemisphäre ist schwarz die Farbe der Trauer. Aber eigentlich ist schwarz gar keine Farbe. Physikalisch gesehen ist schwarz die Abwesenheit von Licht, denn es wird im Gegensatz zu allen anderen Farben überhaupt kein Licht reflektiert. Schwarz liegt nicht im sichtbaren Farbspektrum und deshalb kommt beispielsweise in einem Regenbogen schwarz nicht vor.
In Literatur und Kunst wird schwarz, aber auch die Farbe grau, mit Gemütsstimmungen wie Schmerz, Schwermut, Traurigkeit oder Nachdenklichkeit in Beziehung gesetzt und umschrieben. Dazu passende Adjektive sind u. a. „dunkel“, „traurig“, „einsam“, „beschwerend“, „distanziert“, „düster“, „trübe“ und „unerfreulich“.
Kann man von der schwarz gekleideten Frau etwas Gutes hören?
Wenn sich die „Frau in schwarz“ mit den bereits kurz skizzierten Anzeichen bemerkbar macht, möchte sie nicht ungehört bleiben. Doch was möchte sie sagen? Kann man etwas Gutes von ihr hören oder will sie einen nur noch weiter in eine Depression hineinziehen?
Die Botschaft der „Frau in schwarz“ lässt sich wohl mit „So darfst du jetzt nicht mehr weitermachen!“ gut ausdrücken. „Wenn du es trotzdem tust, nimmst du weiter Schaden an deiner Seele und auch an deinem Körper“, wird sie fortfahren. Die „Frau in schwarz“ schaltet eine Art „Warnleuchte der Seele“ an.
Die „Warnleuchte der Seele“
Im täglichen Leben lassen wir uns in unseren Handlungen durchaus von technischen Hilfsmitteln leiten. Wenn beispielsweise im Auto die Kraftstoff-Warnleuchte aufleuchtet, wird man bei nächstbester Gelegenheit zur Tankstelle fahren und den Tank auffüllen. Niemand käme ernsthaft auf den Gedanken, die Warnleuchte zu ignorieren. Es wäre schlicht leichtfertig, denn die Konsequenzen sind schließlich klar. Wenn man die Warnleuchte einfach ignoriert, bleibt das Auto irgendwann stehen. Nicht das Auto ist daran schuld, sondern man ist es selbst. Man hat einfach ein Warnzeichen ignoriert und trägt dafür die Konsequenzen.
Im übertragenen Sinne ignorieren viele Menschen die „Warnleuchte der Seele“. „Jetzt gerade ist es ungünstig. Ich muss … unbedingt noch schaffen“, mit solchen oder ähnlichen Argumenten versucht man, Gründe dafür zu finden, dass man einfach so wie bisher weitermacht. Die „Frau in schwarz“ wird fortgescheucht. Wenn man jedoch nicht gut für sich selbst sorgt, nimmt, bildlich gesprochen, der „Kraftstoffvorrat der Seele“ immer weiter ab. Irgendwann ist man am Ende, kann nicht mehr und bricht seelisch zusammen.
Rechtzeitig reagieren
Je früher man auf das Aufleuchten der „Warnleuchte der Seele“ reagiert, desto leichter wird es fallen, mit einer Depression umzugehen. Bei einer leichten depressiven Episode können Gespräche mit ein oder mehreren Vertrauenspersonen (z. B. Freund, Coach) helfen, die depressive Phase zu überstehen und wieder Lebensfreude zu gewinnen. Bei mittelgradigen und schweren depressiven Episoden ist hingegen professionelle Unterstützung in der Regel unverzichtbar.
Ist es also etwas Gutes, das die „Frau in schwarz“ sagen will? Ja, denn sie will aufmerksam machen, und sie will, dass man nicht an Seele und Körper Schaden nimmt. Und wenn der Schaden schon angerichtet wurde, dann will sie, dass er sich nicht weiter verschlimmert.
Was könnte man von der schwarz gekleideten Frau hören?
Natürlich ist jede Botschaft der „Frau in schwarz“ eine ganz individuelle Botschaft. Schließlich sind die Lebensumstände sehr unterschiedlich und ebenso auch das jeweils ganz eigene Seelenleben mit seinem ganzen Spektrum an bisherigen Lebenserfahrungen, Einstellungen, Werten usw.
Vielleicht hört man von der „Frau in schwarz“ – die sich oft auch der Unterstützung psychologisch geschulter Fachleute bedient – dass man versucht, Liebe durch Leistung zu erringen. In seiner Kindheit hat man vielleicht erfahren, dass Liebe an Bedingungen geknüpft ist, und hat diese Erfahrung in einen Glaubenssatz übersetzt, etwa so: „Nur wer leistet, wird geliebt“. Dahinter verbirgt sich ein Prinzip der väterlichen Liebe. Die väterliche Liebe muss man sich verdienen, die mütterliche Liebe nicht, denn diese ist bedingungslos (siehe „Die Kunst des Liebens“, Erich Fromm, dtv). Man kann die väterliche Liebe auch wieder verlieren, wenn man sich nicht so verhält, wie es von einem erwartet wird.
Wird man wegen seiner Leistung geliebt?
Wenn man wegen seiner Leistung geliebt wird, bleiben stets irgendwelche Zweifel bestehen, dass man etwas (doch) nicht richtig oder nicht gut genug gemacht hat. Stets lebt man in Sorge, dass die Liebe wieder entzogen wird. Und in einem steigt vielleicht das Gefühl hoch, dass man nicht um seiner selbst willen geliebt wird, sondern dass man für ein bestimmtes Ziel oder einen bestimmten Zweck benutzt wird. Man wird also schlussendlich gar nicht geliebt, sondern benutzt.
Aus dieser mehr oder weniger bewussten Einstellung, nur wegen seiner Leistung geliebt zu werden, erwachsen Pflichtbewusstsein und Leistungsorientierung. In der Tat waren viele an einer Depression erkrankte Menschen vor ihrer Erkrankung besonders leistungsbereit, tüchtig, und überforderten sich jahrelang. Sie litten an dem Gefühl, nicht liebenswert zu sein. Deshalb verinnerlichten sie schon sehr früh im Leben, dass Liebe durch Leistung verdient werden muss.
Depression als „Ausweg“?
Die Erkrankung an einer Depression kann – so lautet eine Hypothese – eine unbewusste Rechtfertigung dafür sein, nicht mehr leisten zu müssen. Damit kann der ebenso unbewusste Wunsch verbunden sein, endlich um seiner selbst willen geliebt zu werden, ohne sich Liebe ständig durch Leistung verdienen zu müssen.
Dieser Wunsch nach mütterlicher, bedingungsloser Liebe, um seiner selbst willen geliebt zu werden, bleibt im realen Leben oft unerfüllt. Daraus erwachsen Enttäuschung und Wut, die aus Angst vor Ablehnung jedoch nicht gezeigt werden darf. Gehemmte Wut richtet sich jedoch früher oder später stets gegen die eigene Person. Verdrängte Wut und Leistungsorientierung bilden eine Kombination, die geradezu ein idealtypischer Auslöser für eine Depression ist. Insofern lässt sich eine Depression gewissermaßen auch als Wut gegen sich selbst verstehen.
Weshalb sollte man auf die schwarz gekleidete Frau hören?
Wie schon erwähnt, hat die „Frau in schwarz“ für jeden an einer Depression leidenden Menschen eine ganz individuelle Botschaft. Wenn sie „Stopp!“ ruft, möchte sie, dass etwas aufgedeckt wird und ans Licht kommt. Wenn etwas ans Licht kommt, kann man besser damit umgehen und leichter den Weg aus der Depression finden.
Die „Frau in schwarz“ meint es also gut. Sie möchte, dass man besser für sich sorgt. Weshalb sollte man sie dann verscheuchen und einfach so weiter machen wie bisher? Schließlich droht sich die Situation zu verschlimmern, wenn man sich einfach nur immer weiter „durchbeißt“.
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