„Ich bin nicht das, was mir passiert ist, ich bin, was ich beschließe zu werden.“
Carl Gustav Jung
Carl Gustav Jung (1875-1961), war ein Schweizer Psychiater und der Begründer der analytischen Psychologie. In dieser von ihm begründeten analytischen Psychotherapie ist die Auseinandersetzung mit unbewussten Aspekten der Psyche, wie sie z. B. in den psychischen und somatischen Krankheitssymptomen, in Träumen, Fantasien und Symbolen zum Ausdruck kommen, ein wichtiger Bestandteil.
Nicht (mehr) an die Vergangenheit gefesselt
Claudia (Name geändert) wurde in ihrer Kindheit missbraucht. Sie konnte nicht weitgehend unbeschwert aufwachsen wie andere Kinder. Als bereits erwachsene Frau konnte sie mit professioneller Unterstützung in der Therapie ihre Vergangenheit „bearbeiten“. Sie erlebte, dass das, was ans Licht kommt und ausgesprochen wird, seine zerstörerische Macht verliert. Langsam konnte sie sich vom Rucksack ihrer Vergangenheit lösen.
Wohl die allermeisten Menschen erleben im Lauf ihres Lebens dunkle Zeiten. Da ist der junge Unternehmer, der mit viel Elan ein Unternehmen gegründet hat, viel Zeit und Geld investiert hat. Dann aber gerät er unverschuldet, bedingt durch einen massiven Forderungsausfall, selbst in die Insolvenz. Da ist die alleinerziehende Mutter, die arbeitslos wird, ihre Miete nicht mehr bezahlen kann und schließlich ihre Wohnung verliert. Oder da ist die Ehefrau, die erlebt, wie ihr Partner zum Alkoholiker wird, sich verändert, sie misshandelt, und ihr schließlich nur der Weg ins Frauenhaus bleibt. Oder da ist die Frau in ihren besten Jahren, die unverschuldet Opfer eines Verkehrsunfalls wird und in der Folge mit schweren körperlichen Einschränkungen leben muss.
Es gibt unzählige Lebensbiografien, bei denen herauszulesen ist: es ist etwas passiert. Vielleicht war es ein unverschuldetes Ereignis oder das Geschehene war selbstverschuldet. Fehlentscheidungen, Verluste, Schmerz, Krankheiten usw. durchziehen das Leben. Aber ist man an Vergangenes gefesselt? Die Antwort ist ein klares „Nein“! Es gibt Wege, etwas „Neues“ zu werden.
Das Geschehene – Prellbock oder Weg zur Weiche?
Menschen reagieren auf schicksalshafte Ereignisse höchst unterschiedlich. Manche Menschen resignieren, flüchten in eine Opferrolle und wollen auch in dieser Rolle bleiben. „Andere sind schuld“, so lässt sich ihre Einstellung kurz beschreiben. Mit ihrer Einstellung drücken sie im Endeffekt auch aus: „Ich bin das, was mir passiert ist.“. Ihr Selbstwertgefühl liegt – wen wundert es – nahe am Nullpunkt. Sie wollen nicht mehr und geben sich auf. Andere wiederum scheinen Schicksalsschläge „locker“ wegzustecken. Sie sind wie Stehaufmännchen. Sind sie einmal sprichwörtlich hingefallen, stehen sie gleich wieder auf. Sie schütteln sich, bildlich gesprochen, den Staub aus den Kleidern und fangen gleich wieder mehr oder weniger neu an.
Zwischen diesen Polen gibt es ein breites Spektrum unterschiedlicher Reaktionsmöglichkeiten. Rein faktisch gesehen ist ein schicksalhaftes Ereignis nicht das Ende – definitiv nicht! Die Freiheit der Entscheidung, wie man selbst zum Leben steht, in welche Richtung man es lenken möchte, besteht immer noch. Sie ist nicht verbaut.
Wenn man mitten in einer schwierigen Lebensphase steckt, fällt es verständlicherweise nicht leicht, wieder nach vorne zu schauen. Was und wie man denkt, wie man fühlt, wie man die Zukunft sieht – all dies wird von dem bisher Geschehenen beeinflusst. Und auch die weiter zurückliegenden Erfahrungen mit Rückschlägen im Leben, ob und wie man sie bewältigt hat, spielen eine Rolle.
Aber das Geschehene ist kein Prellbock, der für das Ende eines Wegs steht. Es führt vielmehr zu einer Weiche, die alternative Wege im Leben symbolisiert. Man kann sich entscheiden.
Wie kann man sich von der Vergangenheit lösen und einen neuen Weg einschlagen?
Claudias Therapie nahm insgesamt mehrere Jahre in Anspruch. Für sie war es keineswegs leicht, sich von ihrer Vergangenheit zu lösen und einen neuen Weg einzuschlagen. Immer wieder gab es Rückschläge.
Nicht nur für Claudia, sondern für alle Menschen, die Schicksalsschläge erlebt haben, ist das „Neuwerden“ ein Prozess. Dieser Prozess erstreckt sich oft über mehrere Jahre und umfasst bei sehr grober Betrachtung vier Hauptschritte: Selbstwertgefühl stärken, Blockaden beseitigen, Bild entwerfen und Schritte wagen. Diese Schritte schließen nicht trennscharf aneinander an, sondern fließen mehr oder weniger ineinander. Und der Prozess ist auch keine einmalige Angelegenheit mit definiertem Beginn und Ende, sondern er beginnt gewissermaßen immer wieder von neuem.
Dieser fortwährende Prozess ist letztlich ein Prozess der Selbstheilung. Auch psychiatrische und psychologische Fachleute können diesen Prozess lediglich unterstützen und zur Selbstheilung beitragen. Es liegt beim Klienten bzw. Patienten, den Prozess so umzusetzen, dass er positive Veränderungen im Leben hervorbringen kann.
Wie könnte man ohne Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit und Offenheit Fortschritte erzielen? Es wäre nicht möglich, denn man würde den Kern des Schmerzes umgehen. Die Devise „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!“ würde einen in Wirklichkeit im Vergangenen festhalten.
Auch die Erwartung, dass andere einen Weg vorzeichnen, führt nicht weiter. Man kann seine Geschichte nur selbst aufarbeiten. Und man muss es auch wollen. Gleichwohl können andere Menschen dabei sehr, manchmal sogar entscheidend unterstützen.
Selbstwertgefühl stärken
Manche Menschen fühlen sich wertlos. Man hat nach eigenem Urteil in der Vergangenheit versagt. Vielleicht hat man sich der Alkohol- oder Drogensucht hingegeben. Oder vielleicht hat man finanziell Schiffbruch erlitten. Gründe, sich als Versager zu fühlen, gibt es viele. Doch welche Maßstäbe legt man an sich an? Geht es im weitesten Sinne um Leistung und Erfolg, um die Befriedigung des „Haben-wollens“?
Wenn das Geschehene dem Selbstwertgefühl – oder, besser ausgedrückt, der Selbstwertschätzung – Schaden zugefügt hat, sollte man sich zunächst Zeit dafür nehmen, das Selbstwertgefühl zu stärken und sich selbst wertschätzen zu lernen. Selbstwertschätzung bezeichnet eine positive Einstellung zu sich selbst. Schließlich geht es um Lebensqualität, die Chance und das Ziel, in Übereinstimmung mit seinem wahren Selbst zu leben und sein Potenzial auszuschöpfen. Dieses Ziel lohnt jede Mühe!
Blockaden beseitigen
Schicksalshafte Ereignisse hinterlassen oft Blockaden, die es verhindern, einen neuen Weg einzuschlagen. Bei Claudia hinterließ das Geschehene nicht nur die damit im direkten Zusammenhang stehenden seelischen Wunden.
Wäre der Missbrauch nicht geschehen, hätte sie vielleicht irgendwann die Liebe ihres Lebens kennengelernt und hätte eine Familie gehabt. Weil Claudia die Familie versagt blieb, entwickelte sie Neidgefühle gegenüber anderen Menschen, die Familie hatten. Das Bild der glücklichen Familie stand ihr vor Augen. Durch den Neid fügte sie sich jedoch selbst weiteren Schmerz zu und baute eine Blockade auf. Wie kann sich eine tiefergehende Beziehung mit einem Mann entwickeln, wenn diese Blockade noch vorhanden ist?
Welche Blockaden gibt es und was sind die Auslöser? Es ist hilfreich, sich Zeit zu nehmen, und Blockaden schriftlich zu benennen. Im nächsten Schritt kann man darangehen, aufzuschreiben, was zuvor geschehen ist. Auf diese Weise fällt es leichter, Auslöser für eine Blockade herauszufinden. Wenn man Blockade und Auslöser miteinander in Beziehung gesetzt hat, kann man besser erkennen, wie man eine Blockade beseitigen kann.
Bild entwerfen
Wenn man die Möglichkeit hat, zu beschließen bzw. zu entscheiden, was oder wie man werden möchte, braucht man davon eine möglichst präzise Vorstellung. Wie soll das Leben aussehen, das man führen möchte?
Am besten beschreibt man die Vorstellung schriftlich. Man nimmt sich Zeit und entwirft ein Bild, das die Vorstellung möglichst präzise wiedergibt. Was macht das beste Selbst aus und wie kann man sein bestes Selbst sein? Das Bild beantwortet auch die Frage nach dem „Wofür“, wofür man konkrete Schritte wagen will.
Schritte wagen
Welche Schritte führen zum Ziel? Diese zu erkennen erfordert zunächst eine Positionsbestimmung. Wo steht man gerade? Bei einem Navigationssystem müssen aktuelle Position und Ziel bekannt sein, damit die Route berechnet werden kann. Sinnentsprechend müssen aktuelle Lebenssituation und Ziel (das Bild) bekannt sein, damit man den Weg dorthin bestimmen kann. Der Weg wiederum besteht aus einer Vielzahl von Schritten.
Wie sollen die Schritte dimensioniert sein? Was ist das richtige Maß? Zu große Schritte können schnell überfordern und zu Frustration führen, wenn man nicht so gut vorankommt, wie man möchte. Andererseits können zu kleine Schritte unterfordern. Zu überlegen, welche Schritte sinnvoll und angemessen sind, braucht Zeit.
Wenn man die Schritte hinreichend skizziert hat folgt der „Sprung ins Wasser“. Man muss die Schritte wagen. Vor dem Hintergrund des Geschehenen fällt dies oft nicht leicht. Aber das Wagnis lohnt sich. Was könnte man gegenüber dem aktuellen Zustand verlieren?
Unterstützung suchen – wer kann helfen?
Man kann den Prozess der Selbstheilung alleine bewältigen. Doch ist dies auch sinnvoll und erfolgversprechend? Schätzt man sich selbst gut ein? Oder behindert die subjektive Selbstwahrnehmung eher, einerseits Hindernisse und andererseits Möglichkeiten zu erkennen?
Es erweist sich stets als hilfreich, Menschen in den Prozess mit einzubeziehen, die eine Fremdwahrnehmung beisteuern. Weil es um „Eingemachtes“ geht, kommen dafür mutmachende Ressourcen infrage, d. h. Menschen, zu denen man Vertrauen hat. Das können beispielsweise gute Freunde sein. Sie können ihre Wahrnehmungen und Sichtweisen beitragen und vielleicht auch bei der Korrektur des Selbstbilds helfen. Vielleicht wertet man sich selbst ab, aber der Freund bzw. die Freundin zeichnet ein viel positiveres Bild. So ergibt sich aus Selbst- und Fremdwahrnehmung ein ausgewogeneres Gesamtbild.
Sicherlich ist es am besten, wenn man sich an Menschen wenden kann, die einen schon einige Zeit kennen und die einen auf dem Lebensweg begleiten. Aber wie kann man gut für sich sorgen, wenn niemand da ist, mit dem man sich immer wieder vertrauensvoll besprechen kann?
Eine Möglichkeit besteht darin, anonym und kostenlos mit der Telefonseelsorge zu sprechen. Oder man kann sich um Unterstützungsangebote sozialer Hilfsorganisationen, wie beispielsweise Caritas und Diakonie, bemühen. Schließlich kann man sich auch an einen Berater und Coach wenden. Es mag aber auch sein, dass das Geschehene, insbesondere bei traumatisierenden Erlebnissen, so tief verankert ist, dass einfühlsame psychotherapeutische Unterstützung erforderlich ist. Diese Möglichkeiten konzentrieren sich eher auf spezifische Fragestellungen oder Lebensphasen.
„Ich bin nicht machtlos!“
Im Prozess der Selbstheilung macht man eine Erfahrung: „Ich bin“. Und diese Erfahrung erweitert sich. Vielleicht erweitert sie sich erstmalig. Vielleicht wird sie wieder aufgefrischt. Sie lässt sich kurz so zusammenfassen: „Ich bin nicht machtlos!“.
Schließlich kommt die Perspektive hinzu: „Ich bin, was ich beschließe zu werden“. So kann eine Bewegung weg von Ohnmacht und hin zu Perspektivbewusstsein und Handlungsfähigkeit geschehen.
* Sie können nach Text suchen, der in Zitaten vorkommt (Beispiele: „Glück“, „hoff“)