Wenn ich an eine Person denke – was „sehe“ ich dann in dieser Person? Lebensleistung oder Lebensspuren?
Diese Frage stellte sich mir kürzlich. Ich erhielt die Nachricht, dass Franz (nicht sein richtiger Name) gestorben ist. Fast unwillkürlich kam die Frage: Was war eigentlich seine Lebensleistung? Aber gleich anschließend wurde mir bei dieser Frage etwas unwohl. Wäre es nicht sinnvoller, seine Lebensspuren in Erinnerung zu rufen?
Zu seinen Lebensspuren fiel mir gleich sehr viel ein. Franz hat viele Lebensspuren hinterlassen, vor allem durch seine freundliche, aufgeschlossene, hilfsbereite Art. Das sahen offenkundig auch viele andere Menschen so. Eine große Menschenmenge gab ihm das letzte Geleit.
Es war Franz, der Mensch, der andere beeindruckte. Es war nicht irgendeine Art von Lebensleistung, die an ihm faszinierte. In seinem Leben hat er kein öffentliches Amt mit Außenwirkung bekleidet. Er ist nicht durch irgendeine wissenschaftliche Leistung ins Rampenlicht getreten. Auch hat er kein florierendes Unternehmen aufgebaut. Er war ein bescheidener Mensch, der andere Menschen ernst nahm und eine geheimnissvolle Faszination ausstrahlte. Ja, er strahlte etwas aus.
Lebensleistung engt auf Rollen ein
Was wäre überhaupt Lebensleistung? Könnte man beispielsweise einen Sachbearbeiter daran messen, wieviele Fälle er in seiner beruflichen Laufbahn bearbeitete? Könnte man einen Verkäufer daran messen, wieviel Umsatz er während seiner Karriere erzielte? Eine derartig gemessene Lebensleistung bezöge sich lediglich auf eine oder mehreren Rollen, nicht auf den ganzen Menschen.
Die Fokussierung auf die Lebensleistung verengt zu sehr. Sie „unterschlägt“ die Beziehungen zwischen Menschen. Anerkennung einer Lebensleistung äußert sich in Respekt, Bewunderung, Neid und mancherlei anderen, relativ „kalten“ Gefühlen. Auf der anderen Seite graben gesunde Beziehungen „warme“ Gefühle, wie etwa Dankbarkeit, Liebe und Anerkennung ein. Und „warme“, positive Gefühle halten sehr viel länger an. Sehr viel mehr als irgendeine Art von Lebensleistung sind es die menschlichen Beziehungen, die Spuren hinterlassen.
Eine wie auch immer geartete Lebensleistung liegt letzten Endes nicht in menschlicher Hand. Was wäre, wenn mitten im Leben ein Unfall geschähe der eine schwere körperliche Einschränkung zur Folge hat? Dann wäre die erhoffte und gewünschte Lebensleistung nicht mehr zu erbringen. Was bedeutete dies für den Wert des Lebens?
Meine Lebensspuren bestimme ich selbst
Welche Spuren mein Leben hinterlässt, liegt dagegen vollständig in meiner Hand. Ich entscheide, wie ich anderen Menschen begegne. Bin ich freundlich oder abweisend? Signalisiere ich anderen, dass ich sie ernst nehme und respektiere, auch wenn sie vielleicht nicht mit mir einer Meinung sind, auch wenn mir ihr Lebensstil nicht gefällt usw.?
Niemand kann mir die Gestalterrolle nehmen. Was meine Lebensspuren anbelangt, bin ich uneingeschränkter Gestalter meines Lebens und stelle die Weichen, wie andere mich wahrnehmen.
Franz hat seine Spuren hinterlassen. Ich werde immer wieder dankbar an ihn denken, wie auch noch nach Jahrzehnten an manch andere Menschen denke, denen ich begegnen durfte, die ebenfalls ihre ganz eigenen Spuren hinterlassen haben.