„Das beste Mittel, jeden Tag gut zu beginnen, ist: beim Erwachen daran zu denken, ob man nicht wenigstens einem Menschen an diesem Tage eine Freude machen könne.“
Friedrich Nietzsche
Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844-1900) war ein deutscher klassischer Philologe. Dank seiner zahlreichen philosophischen Schriften wurde er als Philosoph weltberühmt, allerdings erst nach seinem Tod. Er war Vertreter des Nihilismus, einer Weltsicht, welche die Möglichkeit jeglicher objektiven Seins-, Erkenntnis-, Wert- und Gesellschaftsordnung verneint. Für Nietzsche ist der Nihilismus Ergebnis der Überzeugung, dass es keine absoluten Wahrheiten und Werte gibt. Ab seinem 45. Lebensjahr bis zu seinem Tod litt er unter einer schweren psychischen Erkrankung.
Woran denkt man morgens beim Aufwachen?
An hilfreichen Tipps, gut und wohlgelaunt in den Tag zu starten, besteht kein Mangel. Zeitiges Aufstehen, die morgendliche Dusche, ein gesundes Frühstück, Yoga, Sport, Meditation, gute Musik, zählen zum Standardrepertoire. All dies sind sinnvolle und bewährte Elemente für einen guten und entspannten Start in den Tag.
Der neue Tag beginnt jedoch im Kopf. Woran denkt man beim Aufwachen? Sehr wahrscheinlich denkt man gleich wieder an das, was einen schon vor dem Einschlafen am Vorabend beschäftigt hat. Vielleicht war es etwas Unangenehmes, beispielsweise die harte Auseinandersetzung mit dem Chef. Vielleicht war es aber auch etwas Schönes, beispielsweise die Vorfreude auf die unmittelbar bevorstehende Urlaubsreise. Oder man hat seine Aufmerksamkeit darauf gelenkt, wofür man am zu Ende gehenden Tag dankbar sein konnte.
Wenn man es nicht geschafft hat, mit positiven Gedanken einzuschlafen und wieder aufzuwachen, kann man den Tag mit etwas „Tricksen“ trotzdem gut beginnen: mit Lachen. Dessen positiven Auswirkungen sind mittlerweile gut erforscht. Im Gehirn, genauer ausgedrückt: im limbischen System, werden während des Lachens Glückshormone (Endorphine) produziert und ausgeschüttet. Gleichzeitig wird die Ausschüttung des Stresshormons Adrenalin unterdrückt. Auch eine stärkende Wirkung auf das Immunsystem wurde in Studien nachgewiesen. Und schließlich sinkt durch das Lachen auch der Stresspegel.
An andere Menschen denken, überlegen, ob man an diesem Tag einem anderen Menschen eine Freude machen kann, zählt nicht gerade zu den Standardtipps in den diversen Ratgebern. Diese Tipps sind hauptsächlich auf einen selbst und das eigene Wohlbefinden bezogen, nicht auf soziale Beziehungen.
Was geschieht, wenn man an „Freude machen“ denkt?
Vielleicht sagt man sich: „Andere machen mir keine Freude. Weshalb soll ich dann anderen eine Freude machen?“. Was hätte man davon? Und müsste man sich vielleicht sogar krampfhaft dazu überwinden, jemand an diesem Tag eine Freude zu machen?
Wenn man auf die eine Seite der Medaille schaut, sieht man den anderen Menschen, der in den Genuss der Freude kommt, die man ihm macht. Es gibt aber auch die andere Seite der Medaille. Wenn man auf diese schaut, sieht man sich selbst – nicht nur als Geber, sondern auch als Empfänger.
Schon allein das Überlegen, wem man eine Freude machen und wie diese aussehen könnte, bringt ein positives Stimmungselement mit sich. Man setzt bei sich selbst Kreativität frei. Man erlebt man sich selbst als produktiv, in einem Zustand intensiver Wachheit und gesteigerter Vitalität. „Ich werde wirksam sein, etwas bewegen“, ist Ausdruck von Aktivität und Produktivität.
Für sich selbst setzt man einen positiven Grundton für den Tag. Im Prinzip ist man sogar in positiver Weise egoistisch, aber diese Art Egoismus wird niemand als solchen entlarven. Und schließlich schafft man auch gute Voraussetzungen, um in irgendeiner Form positive menschliche Begegnung zu erleben. Schließlich ist kaum davon auszugehen, dass man auf Ablehnung stößt, wenn man eine Freude macht – es sei denn, sie wäre von vornherein unangemessen.
Der Arzt und Psychotherapeut Alfred Adler griff die positiven Auswirkungen auf einen selbst in einem etwas anderen Zusammenhang auf. Er sprach nicht vom „Freude machen“, sondern vom „Helfen“ und stellte einen Zusammenhang mit der Befreiung von Depressionen her. Er formulierte es etwas provokativ so: „Wir können uns in nur vierzehn Tagen von unseren Depressionen befreien, wenn wir uns nur jeden Tag überlegen, wie wir anderen helfen können.“.
Auch Johann Wolfgang von Goethe sah die direkte Beziehung zwischen dem „etwas für andere tun“ und dem „etwas für sich tun“. Er drückte es so aus: „Wer nichts für andere tut, der tut nichts für sich.“. Im Umkehrschluss ergibt sich eine Art „wenn-dann“-Regel: „Wer etwas für andere tut, der tut etwas für sich“.
Wem könnte man eine Freude machen?
In einem Kalenderjahr hat man an 365 Tagen (in einem Schaltjahr an 366 Tagen) die Möglichkeit, sich zu überlegen, ob man jemand eine Freude machen kann. Auf den ersten Blick mag einen dies überwältigen. „So viele Menschen gibt es in meinem Umfeld überhaupt nicht“, denkt man vielleicht. Doch Friedrich Nietzsche ging es nicht darum, eine Art Zwang aufzuerlegen. Das „ob man nicht […] könne“ lässt die Freiheit. Man kann, muss aber nicht. Aber man kann ja daran denken.
Sicherlich denkt man in erster Linie an Menschen im direkten persönlichen Umfeld, in der Familie, im Freundeskreis. Sie stehen einem schließlich am nächsten. Doch auch an Kollegen im Arbeitsumfeld, im Verein usw. mag man denken. Je nachdem, wie viele Menschen man kennt, denen man eine Freude machen könnte und dies auch möchte, kann es sich sogar anbieten, eine Liste mit deren Namen zu führen.
Manche Menschen befinden sich vielleicht an weit(er) entfernten Orten, andere wiederum sind einem vielleicht sogar ganz nah: der Partner bzw. die Partnerin, mit dem bzw. der man das Bett teilt, das Kind bzw. die Kinder. Dann hat man es nicht weit, wenn man eine Freude machen möchte.
Welche Art von Freude könnte man machen?
Muss es Geld kosten, wenn man jemand eine Freude machen möchte? Sicherlich nicht. Davon abgesehen ist ungeteilte Anwesenheit, Präsenz, Gegenwart, das wohl wertvollste Geschenk. Schließlich schenkt man jemand etwas von seiner wertvollen, nicht rückholbaren Zeit. Der Psychologe Marshall B. Rosenberg, der das Konzept der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) entwickelte, drückte es so aus: „Deine Gegenwart ist das wertvollste Geschenk, das du einem anderen menschlichen Wesen machen kannst.“.
Wenn man jemand eine Freude macht, drückt man damit auch seine Zuneigung aus. Natürlich könnte auch kühle Berechnung dazu motivieren, doch dann wäre es im eigentlichen Sinne die eine Seite eines Tauschgeschäfts. Man erwartet unausgesprochen eine Gegenleistung. Wenn jedoch pure Zuneigung das Motiv ist, gibt man freiwillig, mit Freude und ohne Erwartung, etwas zu empfangen.
Eine Freude machen – Entlastung schenken
Zu Friedrich Nietzsches Wirkungszeit, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gab es im Wesentlichen die Eisenbahn und die Postkutsche als Beförderungsmittel. Briefe brauchten mitunter viele Tage bis zur Zustellung. Eine moderne Kommunikationsinfrastruktur, wie wir sie heute kennen, lag noch außerhalb jeglicher Vorstellungskraft.
Die meisten Menschen waren zu Nietzsches Lebzeiten noch in der Landwirtschaft mit seinem jahreszeitlich geprägten Arbeitsrhythmus tätig. Gearbeitet wurde ohne feste Arbeitszeiten von morgens bis abends, so lange es eben hell war. Im Zuge der vehement einsetzenden Industrialisierung entstanden immer mehr Industriebetriebe und auch die Städte wuchsen stark. Nicht wenige Arbeiter in Industriebetrieben kamen um das Jahr 1850 auf eine Wochenarbeitszeit von 90 Stunden. Gesetzliche Urlaubsregelungen gab es damals noch nicht; solche wurden erst Anfang des 20. Jahrhunderts erlassen.
Sehr wahrscheinlich hatte Friedrich Nietzsche angesichts der damaligen Lebensverhältnisse mehr die ganz praktischen Dinge im Auge, wenn er davon schrieb, jemand eine Freude zu machen. Jemand eine Freude zu machen bedeutete vor allem, diese Person(en) zu entlasten.
Wie könnte man jemand entlasten? Diese Frage ist zeitlos. Vielleicht freut sich beispielsweise ein „Jemand“ (der Partner, die Partnerin, die Mutter, der Vater oder auch jemand anderes) darüber, wenn man anbietet, nach dem Essen den Tisch abzuräumen, das Geschirr im Geschirrspüler zu verstauen, in der Küche aufzuräumen usw.
Eine Freude machen – Zuneigung zeigen
Wenn man aus freien Stücken jemand eine Freude machen möchte, geschieht dies vor dem Hintergrund einer mehr oder weniger intensiven persönlichen Zuneigung. Man überlegt sich, was der Person bzw. den Personen Freude machen würde. Vielleicht muss man erst fragen, aber vielleicht weiß man es auch schon.
Die Möglichkeiten, wie man Zuneigung zeigen kann, sind grenzenlos. Vielleicht ist es der unerwartete Blumenstrauß, der Freude macht. Oder vielleicht ist es das romantische Gedicht. Vielleicht sind es auch Früchte, Gemüse oder Blumen aus dem eigenen Garten. Oder …
Manchmal kann man im Vorhinein nicht wissen, was ausgelöst wird, wenn man jemand eine Freude macht. Vielleicht erlebt jemand gerade einen harten Arbeitstag mit unliebsamen Erfahrungen. Dann wirkt das Zeichen der Zuneigung vielleicht wie ein heller Lichtstrahl aus einem dunklen Himmel. Und es wird eine Verbindung zwischen Menschen geschaffen bzw. verstärkt.
Das Morgenritual anreichern?
Gewohnheiten haben einen sehr starken Einfluss auf unser Verhalten. Vielleicht hat man schon ein festes Morgenritual mit immer wiederkehrenden Aktivitäten, die in einer bestimmten Folge nacheinander ausgeführt werden. Wie wäre es, das Morgenritual mit einer weiteren Aktivität anzureichern: Überlegen, ob man an diesem Tag jemandem eine Freude machen kann.
Falls man schon eine Liste hat, kann man die Namen kurz durchgehen. Vielleicht kommt einem dabei ein Gedanke. Möglicherweise weiß man schon, wie man entlasten oder sonst Zuneigung zeigen könnte und hätte auch an diesem Tag die Möglichkeiten dazu. Vielleicht fällt einem auch spontan jemand ein und man hat eine Idee, wie man eine Freude machen könnte. Es mag auch sein, dass einem gerade niemand einfällt. Dann kann man ja am nächsten Morgen wieder neu überlegen.
Wenn man das angereicherte Morgenritual mindestens eine Woche konsequent durchführt, wird man wahrnehmen, dass man sich schon daran gewöhnt hat. Die eigene Person steht nicht mehr alleine im Mittelpunkt.
Hervorragendes Mittel gegen Einsamkeit
Wer sich schon einsam fühlt und sich an den üblichen Standardtipps orientiert, bleibt einsam. Man mag zwar den Tag gut und gesund beginnen, aber was tut man für die menschlichen Beziehungen? Friedrich Nietzsches Anregung ist ein hervorragendes Mittel gegen Einsamkeit.
Wenn man seine Anregung in die Tat umsetzt, wird man wahrscheinlich an diesem Tag einem anderen Menschen eine Freude machen. Es kann sich um eine ganz kleine Freude handeln, die man jemandem macht. Und es muss außer menschlicher Zuneigung noch nicht einmal etwas kosten.
Noch ein weiterer Effekt stellt sich ein: wenn man einem anderen Menschen eine Freude macht, tut man sich gleichzeitig etwas für sich selbst. Und man tut etwas für seine sozialen Beziehungen.
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