Es ist keine Schande sein Ziel nicht zu erreichen, aber es ist …Lesezeit: 9 Min.

„Es ist keine Schande sein Ziel nicht zu erreichen, aber es ist eine Schande kein Ziel zu haben!“

Viktor Frankl
Es ist keine Schande sein Ziel, V. Frankl - Gestaltung: privat
Gestaltung: privat

Viktor Frankl (1905-1997) war ein österreichischer Neurologe und Psychiater. Er begründete die Logotherapie und Existenzanalyse, die vielfach auch als die „Dritte Wiener Schule der Psychotherapie“ bezeichnet wird.

Suizide von Schülern – dagegen muss etwas getan werden!

„JUGENDLICHE! Wendet euch in jeder SEELISCHEN NOT vertrauensvoll an die unten angeführten Jugend-Beratungs-Stellen! Unentgeltlich! Keine Namensnennung nötig! Strengste Verschwiegenheit! ES IST NIE ZU SPÄT!“ – das stand auf einem Plakat für die von Viktor Frankl gegründeten Jugendberatungsstellen.

Schon während seiner Studienzeit (Studium der Medizin, 1924-1930) waren Depressionen und Suizid Schwerpunktthemen Viktor Frankls. Zusammen mit etwa 60 ehrenamtlichen Mitgliedern arbeitete er in der 1928 von Wilhelm Börner gegründeten Lebensmüdenstelle mit. Ziel dieser Einrichtung war es, Suizidhandlungen vorzubeugen.

In den Jahren 1928 und 1929 organisierte Viktor Frankl in Wien und sechs weiteren Städten Jugendberatungsstellen. Hier konnten Jugendliche in seelischer Not unentgeltlich bei verschiedenen Ärzten, Psychologen und Seelsorgern Hilfe finden. Sie boten auch eine Möglichkeit, sich mit Sinn- und Existenzfragen auseinander zu setzen.

Das erwähnte Plakat wurde im Jahr 1929 zur Zeit der Zeugnisverteilung für eine erstmalige Aktion eingesetzt, um Schüler mit schlechten Zeugnissen vom Suizid abzuhalten. Viktor Frankl war auf die auffällige Häufung von Schülerselbstmorden um die Zeit der alljährlichen Zeugnisverteilung am Schuljahresende aufmerksam geworden.

Überall in Wien wurden Plakate angebracht. Viktor Frankl mietete im sogenannten Wiener Ärzteviertel ein Büro an, von dem aus er die Jugendlichen, die sich bei ihm meldeten, an ehrenamtliche Helfer vermittelte. Diese dann fortgesetzte Aktion hatte schon in ihrem zweiten Jahr zur Folge, dass in Wien nach vielen Jahren erstmalig kein einziger Schülerselbstmord zu verzeichnen war.

Die Unterstützung der Jugendlichen war durchaus weitreichend. In besonders schwierigen Fällen wurden Schülerinnen und Schüler, die sich wegen eines schlechten Zeugnisses nicht nach Hause trauten, mit Begleitung von Mitarbeitenden der Jugendberatungsstellen zu ihren Eltern gebracht.

Auch der Schriftsteller Friedrich Torberg griff die Thematik des Schülerselbstmords in seinem Erstlingswerk, dem 1930 erschienenen Roman „Der Schüler Gerber“, auf. Friedrich Torberg thematisierte nicht nur seine eigenen schlechten Schulerfahrungen. Auch zehn Schülerselbstmorde, die in einer einzigen Woche im Januar 1929 von Zeitungen gemeldet wurden, bildeten dafür einen Hintergrund.

Heute können sich Kinder und Jugendliche in vielen europäischen Ländern über die EU-Rufnummer 116 111 (oder in Deutschland 0800 – 111 0 333) anonym und kostenlos an Beratende wenden. Für Erwachsene ist die Telefonseelsorge über die EU-Rufnummer 116 123 (oder in Deutschland 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222) ebenfalls anonym und kostenlos erreichbar.

Ein deutlich wahrnehmbarer Erfolg

Wie bereits erwähnt, gelang es mit Hilfe der Jugendberatungsstellen, die Zahl der Suizide Jugendlicher auf Null zu drücken. In den Gesprächen mit den psychologischen Fachpersonen, die als Ehrenamtliche für die Jugendberatungsstellen tätig waren, erfuhren die Jugendlichen, dass Schulnoten bei Weitem nicht alles im Leben sind. Sie gewannen einen neuen Blick auf die Sinnhaftigkeit des Lebens.

Jugendliche mussten den entscheidenden Schritt selbst gehen und sich an Jugendberatungsstellen wenden. Sie mussten Unterstützung in Anspruch nehmen wollen. Dann konnten sie eine andere Perspektive wahrnehmen und erkennen, dass ein sinnzentriertes Leben möglich ist, und dass sie es gestalten können. Und sie erfuhren, dass es einen Weg aus depressiven Gedanken gibt.

Das erfolgreiche Wirken der Jugendberatungsstellen geschah in gesamtwirtschaftlich schwierigen Zeiten, vor dem Hintergrund beginnender Massenarbeitslosigkeit in der Republik Österreich. Ab 1929 geriet Österreich in den Sog der Weltwirtschaftskrise. Zwischen 1925 und 1930 lag die Arbeitslosenrate noch bei etwa 10 Prozent. Während der Weltwirtschaftskrise schnellte sie jedoch auf 23 Prozent hoch. Im Jahr 1933 war sogar etwa ein Drittel der verfügbaren Arbeitskräfte ohne Beschäftigung.

Natürlich ging die sich entwickelnde wirtschaftliche Situation an den Jugendlichen nicht vorbei. Sie mussten sich mit der Aussicht auseinandersetzen, sich nach der Schule in das Heer der Arbeitslosen eingliedern zu müssen. Dennoch lag in der Sinnhaftigkeit des Lebens für die Jugendlichen eine Kraft, die stärker war als destruktive und zerstörerische Kräfte.

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Hinauswachsen über sich selbst

Jugendliche wollen zweifellos ihr Leben genießen. Dieser verständliche Wunsch trifft bei nicht wenigen Jugendlichen jedoch gleichzeitig auf Empfindungen von Langeweile und innerer Leere. Dem positiven Lebensgefühl stehen negative Gefühle gegenüber: Gefühle von Niedergeschlagenheit, Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit usw. Viele Jugendliche wissen nicht, wie sie mit den negativen Gefühlen umgehen können und zeigen auch Defizite in der Konfliktbewältigung. Häufig kommt es zur Selbstabwertung.

Viktor Frankl vermittelte seinerzeit gefährdeten Jugendlichen, die nach dem Sinn ihres Daseins fragten, gewissermaßen als Rezept, ehrenamtliche Aufgaben in Wiener Bibliotheken. Die Sinnhaftigkeit dieses Ehrenamts war ein motivierender Faktor und entfaltete eine Schutzwirkung. Viktor Frankls Auffassung zufolge kann sich der Mensch nur in dem Maße verwirklichen, in dem er einen Sinn in der Welt erfüllt. Den Sinn in sich selbst zu erfüllen, war Viktor Frankl zu wenig.

Ein Ehrenamt vereint Sinn und Aufgabe. Den destruktiven Gedanken steht jetzt ein Gegengewicht gegenüber. Neben der sinnstiftenden Tätigkeit verhilft ein Ehrenamt zu neuen sozialen Kontakten und zwischenmenschlichen Beziehungen, fördert die Verankerung in der Gesellschaft. Außerdem muss Neues gelernt und eingeübt werden. Das Leben bekommt mehr Struktur, vielleicht bis hin zur Tagesstruktur. Gefühlen der Leere und der Sinnlosigkeit wird, bildlich ausgedrückt, der Boden unter den Füßen weggezogen. Man arbeitet ja an etwas Sinnstiftendem mit und wird gebraucht.

Natürlich ist ein Ehrenamt nicht der einzige Weg, um Sinn und Aufgabe zu vereinen. Doch für die Jugendlichen damals war die ehrenamtliche Tätigkeit eine Möglichkeit, depressiven Gedanken etwas Nachhaltiges entgegen zu setzen. Ihnen ging es nicht um Geld, etwas zu verdienen. Ihnen ging es um Sinn.

Wenn die Fixierung auf sich selbst gelöst wird, kann der Mensch über sich selbst hinauswachsen (Selbsttranszendenz) und frei werden für etwas „Höheres“. Dieses „Höhere“ ist die Hingabe an eine Aufgabe, den Dienst an einer Sache oder die Liebe zu einer anderen Person. In diesem „Höheren“ kann sich der Mensch selbst übersehen und vergessen. Er kann seinen individuell persönlichen Sinn im Leben „ent-decken“.

Die Frage nach dem Sinn des Daseins bewegt beileibe nicht nur Jugendliche, sondern Menschen jeden Alters. Der Prozess des Hinauswachsens über sich selbst, hin zu „Höherem“, steht ebenfalls allen Menschen offen. Das „Es ist nie zu spät!“ gilt ein Leben lang.

Was ist das sinnvolle Ziel?

Vor dem Hintergrund der Erfahrungen Viktor Frankls in der Suizidprävention stellt sich die Frage nach dem Ziel des Lebens. Was könnte das Ziel des Lebens sein? Wäre ein geeignetes Ziel des Lebens, reich werden zu wollen, sportliche Spitzenleistungen zu erbringen, eine Bucket List mit all dem, was unbedingt erlebt werden möchte, abzuarbeiten, oder …?

Wenn Viktor Frankl vom Ziel spricht, dann meint er nicht ein Bündel von Zielen, sondern eher das Ziel, auf welches ein Leben hingeordnet ist. Für ihn ist es wichtig, dass der Mensch einen Sinn in seinem Leben erkennt und seine Lebensaufgabe „ent-deckt“: „Wir erfinden unseren Auftrag in dieser Welt nicht, sondern wir ent-decken ihn. Er liegt in uns und wartet darauf, verwirklicht zu werden. Jede/r hat eine persönliche Berufung oder Mission im Leben; jede/r muss einer bestimmten Aufgabe nachkommen, die auf Erfüllung drängt. Der Auftrag jedes Menschen ist genauso einzigartig wie die Chance, ihn zu erfüllen.“. Der Lebenssinn kann nicht von einem Anderen vorgegeben, gewissermaßen verordnet, werden; er muss selbst gefunden werden.

Nach Ansicht Viktor Frankls wirkt es resilienzfördernd, wenn ein Mensch seine Lebensaufgabe erkannt hat. „Wahrscheinlich hilft nichts einem Menschen mehr, Schwierigkeiten zu überwinden oder zu ertragen, als das Bewusstsein, eine Aufgabe im Leben zu haben.“, fasst er zusammen.

Weshalb ist es eine Schande, kein Ziel zu haben?

In geradezu drastischen Worten spricht Viktor Frankl von einer Schande, kein Ziel zu haben. Schande bezeichnet einen Zustand, in den man durch eigenes schuldhaftes Handeln oder Nichthandeln geraten ist, und der dem eigenen Ansehen stark schadet. Schande kann mit einem Zustand des Verachtetseins oder des Bloßgestelltseins einhergehen.

Wäre es erst recht eine Schande, sich nie ernsthafte Gedanken über seinen Lebenssinn und seine Lebensaufgabe zu machen? Dies lässt sich durchaus folgern. Wenn man sich darüber nie Gedanken macht, nimmt man sich selbst die Chance, sein Leben auf etwas hinzuordnen. Ohne Ziel sind schließlich alle Wege richtig – oder auch falsch.

Viele Menschen hegen durchaus den Wunsch, ein sorgenfreies Leben zu führen. Wenn man genug Geld hätte und kerngesund wäre, stünde man auf der Sonnenseite des Lebens und hätte alle Möglichkeiten. Man könnte spontan entscheiden, was man sich als nächstes vornimmt. Stünde einem beispielsweise der Sinn nach ein paar Wochen auf einer Insel in der Südsee, könnte man sofort hinreisen. Das Leben bräuchte kein Ziel. Es wäre ständiger Genuss.

Menschen, die alle Voraussetzungen mitbringen, ein sorgenfreies Leben führen zu können, sind jedoch durchaus nicht unbedingt glückliche und erfüllte Menschen. Sie haben alles, doch wenn sie nur auf sich selbst fixiert sind, gehen sie in Wirklichkeit am Leben vorbei. Das zutiefst sinnerfüllte Leben lernen sie nicht kennen.

Gutes und Sinnvolles tun – ganz praktisch

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Weshalb ist es keine Schande, sein Ziel nicht zu erreichen?

Wann ist ein Ziel erreicht? In der Wirtschaft nutzt man Leistungskennzahlen (Key-Performance-Indicators), anhand derer der Fortschritt oder der Erfüllungsgrad hinsichtlich wichtiger Zielsetzungen gemessen und/oder ermittelt werden kann. Ein Unternehmen kann beispielsweise eine Leistungskennzahl für die Kundenzufriedenheit festlegen. Liegt die Kundenzufriedenheit über der Leistungskennzahl, ist das Ziel erreicht. Liegt der Wert darunter, ist das Ziel verfehlt und Maßnahmen zur Verbesserung müssen in die Wege geleitet werden.

Könnte man im übertragenen Sinne auch eine Art Leistungskennzahl für das Ziel des Lebens oder die Erfüllung der Lebensaufgabe festlegen? Es wäre denkbar, wenn man schon genau weiß, was man erreichen möchte. Doch das Leben lässt sich nicht wirklich planen. Es mag sein, dass man, durch Lebensumstände bedingt, etwas nicht mehr erreichen kann. Und es mag auch sein, dass man sich im Lauf des Lebens neue Ziele steckt. Deshalb erscheint es als besser, das große Ziel in mehrere kleine Ziele zu gliedern, die man in absehbarer Zeit auch erreichen kann. Kleine Ziele lassen sich besser überblicken.

Wenn man ein kleines Ziel nicht erreicht, ist dies nicht schlimm. Das große Ziel, welches dem Leben die Richtung gibt, besteht nach wie vor: die Lebensaufgabe im Leben zu verwirklichen und den erkannten individuellen Lebenssinn ausfüllen. Wie weit man im Hinblick auf das große Ziel kommt, liegt nicht in den eigenen Händen. Es mag sein, dass das große Ziel nicht erreicht wird, doch man ist und bleibt auf dem Weg.

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Ich bin Dieter Jenz, Begleiter, Berater und Coach mit Leidenschaft. Über viele Jahre hinweg habe ich einen reichen Schatz an Kompetenz und Erfahrung erworben. Meine Themen sind die "4L": Lebensaufgabe, Lebensplanung, Lebensnavigation und Lebensqualität.