„Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“
Viktor Frankl
Viktor Frankl (1905-1997) war ein österreichischer Neurologe und Psychiater. Er begründete die Logotherapie und Existenzanalyse, die vielfach auch als die „Dritte Wiener Schule der Psychotherapie“ bezeichnet wird.
Entscheidungsfreiheit – auch unter schwierigsten Umständen
Viktor Frankl musste ab September 1942 insgesamt rund zweieinhalb Jahre in vier verschiedenen Konzentrationslagern, Arbeits- und Vernichtungslager des NS-Regimes, verbringen. In diesen Lagern wurden mehrere Millionen Menschen ermordet, politische Gegner beseitigt, Häftlinge durch Zwangsarbeit ausgebeutet, Kriegsgefangene interniert und Häftlinge zu medizinischen Versuchen missbraucht. Während der Zeit des NS-Regimes wurden im Deutschen Reich und in den besetzten Gebieten rund 1000 Konzentrations- und Nebenlager sowie sieben Vernichtungslager errichtet und betrieben.
Bei der Aufnahme in ein Konzentrationslager wurde den Häftlingen das Kopfhaar geschoren und die Privatkleidung sowie eventuell mitgebrachter Privatbesitz abgenommen. Anstelle ihres Namens erhielten sie eine Häftlingsnummer und anstelle ihrer Privatkleidung mussten sie fortan Häftlingskleidung tragen. Auch ihre Identität wurde ihnen genommen, denn sie wurden nicht mehr mit ihrem Namen, sondern nur noch mit ihrer Häftlingsnummer angesprochen.
In den Konzentrationslagern waren die Häftlinge der Willkür und Brutalität mit ständigen Demütigungen durch das Wachpersonal ausgesetzt. Auch Zwangsarbeit musste geleistet werden, unter meist brutalen und unmenschlichen Bedingungen. Dies führte dazu, dass beispielsweise im Konzentrationslager Auschwitz, einem der sogenannten Vernichtungslager, die Lebenserwartung der Häftlinge bei durchschnittlich zwischen vier Wochen und drei Monaten lag.
Es waren jedoch nicht nur die teilweise sadistischen Wachleute, vor denen sich die Häftlinge in Acht nehmen mussten. Auch manche Häftlinge kämpften rücksichtslos um ihr Überleben und stahlen beispielsweise ihren Mithäftlingen die ohnehin schon unzureichende Brotration. Selbst Häftlingen auf der Krankenstation wurden durch Brotdiebstahl die Überlebenschancen gemindert.
Viktor Frankl berichtet, wie dem Häftling nicht nur das gesamte private Hab und Gut und das Kopfhaar, sondern auch Hoffnung und Würde genommen wurde. Als einzige Freiheit blieben die innere Haltung und die persönliche Entscheidungsfreiheit, „sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen“. Und er resümierte weiter: „Gerade eine außergewöhnlich schwierige äußere Situation gibt dem Menschen Gelegenheit, innerlich über sich selbst hinauszuwachsen.“.
Den Reaktionsraum nutzen
Am Reiz selbst kann man meist nichts ändern. Für Viktor Frankl und die vielen Häftlinge in den Konzentrationslagern waren es die Mangelernährung, die schwere Arbeit, die Demütigungen durch das Wachpersonal, das selbstsüchtige Verhalten der Mithäftlinge und vieles mehr. Heute muss niemand – zumindest nicht in Deutschland – befürchten, in ein Konzentrationslager eingewiesen zu werden. Dafür gibt es heute vielfältige andere Reize, die eine Reaktion fordern. Die Grundproblematik und die Grundmuster haben sich nicht geändert.
Selbst in sehr schwierigen Situationen ist man anderen nicht vollständig ausgeliefert. Man hat eine Wahl. Man muss nicht nach einem vorgeprägten Muster reagieren, denn man hat die Entscheidungshoheit über sich selbst, wie man einen Reaktionsraum nutzen kann.
Eine unnötige Eskalation
Ein Szenario: Die Beziehung zwischen Anna (Name geändert) und Lars (ebenfalls Name geändert) wird gefährdet. Anna schnappte aus einem von Lars geführten Telefongespräch beiläufig ein Satzfragment auf. Sie interpretierte es so, dass es Lars freuen würde, eine bestimmte Frau wieder zu treffen. Dies versetzte sie in Unruhe und sie machte Lars eine Szene. Lars war wegen Annas mangelndem Vertrauen tief verletzt.
Es stellte sich heraus, dass es sich bei dieser Frau um eine gute Freundin seiner Mutter handelte, die er schon seit Kindheitstagen kannte, und die er sehr schätzt. Er hätte sie gerne einmal wiedergesehen, was aber aufgrund der geografischen Entfernung nicht so einfach war.
Wie hätte Anna reagieren können? Eine Möglichkeit wäre gewesen, Lars ganz einfach zu fragen: „Möchtest du mir etwas mehr über die Frau sagen, von der du eben gesprochen hast?“. Auf diese Weise hätte sie den Raum zwischen Reiz und Reaktion nutzen können. Dann, nachdem klar war, dass sie etwas missverstanden und Lars nicht von einer zweiten Geliebten gesprochen hatte, hätte sie wahrscheinlich zugestimmt. „Ja, wäre schön, wenn du sie mal wiedersehen könntest“. Hätte Lars jedoch angefangen, herumzudrucksen, hätte sie ihn immer noch zur Rede stellen können.
Begegnung mit einem „Arschloch“
Sympathie und Antipathie sind im sozialen Miteinander eine Realität. Ein Szenario: Stefan (Name geändert) und Felix (Name geändert) sind Nachbarn. Wegen einer aus Sicht außenstehender Dritter unbedeutenden Sache kam es zu einem Streit zwischen Stefan und Felix. Stefan fühlt sich von Felix zu Unrecht beschuldigt und angegriffen. Felix wiederum sieht sich im Recht und möchte sogar von Stefan nicht mehr gegrüßt werden. Felix verweigert jeglichen Kontakt mit Stefan.
Was wäre für Stefan eine natürliche Reaktion? Für ihn wäre naheliegend, jedes Mal, wenn er Felix sieht, für sich zu denken: dieses „Arschloch“. In Wirklichkeit würde er dies nicht nur denken, sondern auch eine körperliche Reaktion auslösen. Beispielsweise würde sich sein Gesichtsausdruck im Einklang mit seinen Gedanken verändern. Und er würde wahrscheinlich wieder an den Anlass, den Streit, zurückdenken. Die Antipathie gegenüber Felix verfestigt sich immer mehr.
Eine Alternative wäre für Stefan, Felix Gutes zu wünschen, wenn er ihn sieht. Stefan verändert Felix dadurch nicht, aber er verändert sich selbst. Er denkt etwas Positives und das wirkt sich auch auf seine eigene Stimmung aus. Zwar wird aus der Antipathie nicht plötzlich Sympathie, aber Stefan schafft für sich eine Distanz zur Antipathie.
Die Kündigung
Eine Kündigung kann gerade in gesamtwirtschaftlich schwierigen Zeiten einen Schock auslösen. Ein Szenario: Silke (Name geändert) erhielt von ihrem Arbeitgeber die Kündigung. Ihr Arbeitsplatz wurde abgebaut, sie wurde nicht mehr gebraucht. Ihr Vorgesetzter hätte sie gerne weiterhin als Mitarbeiterin gehabt, aber letzten Endes kam es doch zur betriebsbedingten Kündigung.
Für Silke kam der Arbeitsplatzabbau keineswegs überraschend. Schon lange rumorte es im Unternehmen und sie erlebte mit, wie das Unternehmen über verschiedene Programme versuchte, sich von Mitarbeitern zu trennen. Doch als sie selbst betroffen war, brach eine Flut von Emotionen über sie herein.
„So einen guten Job finde ich doch nie mehr wieder“, ging es ihr durch den Kopf. „Ich war mit so viel Herzblut dabei, und jetzt das“, „Warum haben sie nicht der Müller gekündigt? Hat die vielleicht …“ – solche und ähnliche Gedankenfragmente beschäftigten sie ebenfalls. Läuft ihre Reaktion auf den Reiz auf Selbstmitleid in einer Opferrolle hinaus?
Eine Möglichkeit einer Reaktion wäre für Silke, die Kündigung für sich gedanklich zu akzeptieren und sich auf ihre Ressourcen zu besinnen. Sie hat bestimmte Fähigkeiten und Kompetenzen, und sie ist auch dazu bereit, falls notwendig, ein neues Berufsfeld zu entdecken. „Ich bin nicht auf den Kopf gefallen und ich kann was. Ich werde wieder einen guten Job finden.“, so oder ähnlich könnte sie zu sich selbst sprechen.
Wie geht man mit sich selbst um?
Auch im Umgang mit sich selbst liegt zwischen Reiz und Reaktion ein Raum. Vielleicht ist einem gerade etwas fürchterlich misslungen und man reagiert gewohnheitsmäßig mit einem Selbstvorwurf. „Hättest du doch besser aufgepasst, dann wäre dir das nicht passiert“ oder „Da hast du dich mal wieder richtig blöd angestellt. Hättest du doch lieber vorher nachgedacht“, solches oder ähnliches mag einem durch den Kopf gehen. Der Raum zwischen Reiz und Reaktion ist sehr klein.
Man kann diesen Raum bewusst ausweiten und eine andere Reaktion wählen. Man kann Gedanken umformulieren. Statt dem „Hättest du doch besser aufgepasst, dann wäre dir das nicht passiert“ könnte man beispielsweise Folgendes zu sich sagen: „Diesmal habe ich nicht aufgepasst. Das war richtig blöd. Aber daraus lerne ich etwas und werde das nächste Mal besser aufpassen“.
Aus einem Selbstvorwurf kann sich sehr schnell eine Selbstabwertung entwickeln. Dann würde man sich gleich doppelt schaden. Es ist etwas misslungen oder schiefgegangen und dafür bestraft man sich auch noch durch Selbstabwertung.
Wenn man die Vergangenheit – das Misslungene – schon nicht mehr ändern kann, wäre es dann nicht viel sinnvoller, die Energie auf Positives statt auf Negatives zu konzentrieren? Negativ sind Selbstvorwürfe und Selbstabwertung, positiv sind Selbstachtung und Selbstliebe.
Inmitten aller Reize – sich selbst führen
Ständig werden wir mit Reizen überflutet und auf jeden Reiz reagieren wir. Auch wenn wir nicht reagieren, reagieren wir, in diesem Fall durch Ignorieren. Wir können auf etwas sofort reagieren, impulsiv und ohne darüber nachzudenken. Oder wir können mit Bedacht reagieren, um uns selbst Raum zu schaffen, damit überlegt werden kann, was in der Situation angemessen sein könnte.
Instinktiv reagieren wir „gelernt“ auf Reize, getrieben von unseren Prägungen, Einstellungen und Glaubensmustern. Dann ist der Reaktionsraum gleich Null oder sehr klein. Aber dies muss nicht so bleiben. Den Reaktionsraum müssen wir selbst, bewusst und willentlich, schaffen. Dann können wir destruktive Reaktionsmuster, ausgedrückt in Denk-, Gefühls- und Verhaltensmustern, besser überwinden.
Um das „gelernte“ Reiz-Reaktion-Muster zu unterbrechen, bedarf es der Wachsamkeit. Wir müssen es lernen, selbst zu intervenieren, wenn wir im Begriff sind, auf einen Reiz zu reagieren. Es kann sehr hilfreich sein, sich selbst ein gedankliches „Stopp!“ zuzurufen, um eine möglicherweise ungünstige Reaktion zu vermeiden. Schon damit wachsen wir in gewisser Weise über uns selbst hinaus.
Wie wir auf Reize reagieren ist in der Konsequenz ein Spiegelbild unserer Entwicklung und unserer Freiheit. Selbst in Stresssituationen können wir unseren Reaktionsraum nutzen und aktiv und wirksam beeinflussen, wie Begegnungen, Gespräche, Auseinandersetzungen usw. verlaufen. Wir behalten die Kontrolle über uns und können uns selbst führen.
* Sie können nach Text suchen, der in Zitaten vorkommt (Beispiele: „Glück“, „hoff“)