Depression ist die Belohnung fürs Bravsein.Lesezeit: 8 Min.

Home » Ermutigung und Inspiration » Depression ist die Belohnung fürs Bravsein.

„Depression ist die Belohnung fürs Bravsein.“

Marshall B. Rosenberg
Depression ist die Belohnung, M. Rosenberg - Gestaltung: privat
Gestaltung: privat

Marshall B. Rosenberg (1934-2015) war ein US-amerikanischer Psychologe. Er entwickelte das Konzept der Gewaltfreien Kommunikation (GFK), englisch: Nonviolent Communication (NVC). Dieses soll Menschen ermöglichen, dergestalt miteinander umzugehen, dass der Kommunikationsfluss auf Grundlage wertschätzender Beziehung zu mehr Vertrauen und Freude am Leben führt. 1984 gründete Rosenberg das gemeinnützige Center for Nonviolent Communication. Als Mediator war er international tätig.

Depression durch Bravsein?

Marion (*) ist schon mehrere Jahre mit Rudi (*) verheiratet. Sie erlebt Rudi als herrisch, mürrisch und sie wenig wertschätzend. Vor einigen Jahren hatte Rudi vorübergehend eine außereheliche Beziehung. Marion kam dahinter und forderte von Rudi, diese Beziehung zu beenden. Das tat er dann auch, aber nicht sofort.

Für Marion ist die Stimmung in ihrer Beziehung belastend. Es ist keine eheliche Beziehung auf Augenhöhe. Ihre depressive Stimmung verwundert nicht. Es ist eine dauerhafte depressive Stimmung. Darüber hinaus sind bei ihr Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen beeinträchtigt. Nach den Kriterien der Stiftung Deutsche Depressionshilfe wäre nach eingehender weiterer Klärung von Haupt- und Nebensymptomen möglicherweise eine Depression zu diagnostizieren.

In all den Jahren ihrer Ehe hat sich Marion immer zurückgenommen. Selbst während Rudis außerehelichen Beziehung wollte sie sich nicht von ihm trennen. Für sie spielte immer auch eine Rolle, was denn die Leute sagen würden. Also blieb es dabei, dass nur sie von dieser Beziehung wusste und die Fassade nach außen gewahrt blieb.

Natürlich hatte ihre eigene Erziehung durch ihre Eltern einen prägenden Einfluss auf ihr Denken und Verhalten. Marion war zum „Bravsein“ oder „Gutsein“ (im englischen Originaltext lautet das Zitat: „Depression is the reward we get for being ‚good‘“) erzogen worden. Ihr war unter anderem mitgegeben worden, nicht in erster Linie an sich zu denken.

Marion hat sich für das „Dauerleiden“ entschieden. Vor einer wirklichen Trennung von Rudi scheute sie immer zurück. Den Gedanken spielte sie wohl durch, aber es blieb eben beim Gedanken.

Wie hätte Marion handeln können, um zu einer Beziehung auf Augenhöhe zu gelangen? Der Weg hätte über ihre Bedürfnisse geführt. Was sind ihre Bedürfnisse in der Beziehung? Wenn sie sich darüber klargeworden ist, weiß sie auch konkret, was sie braucht, was sie möchte und was sie sich wünscht.

Wenn sich Marion über ihre Bedürfnisse klargeworden ist, stellt sich gleich als Nächstes die Frage, ob sie diese wirklich ernstnimmt. Wenn sie ihre Bedürfnisse selbst nicht ernstnimmt, darf sie auch nicht erwarten, dass es Rudi tut. Marshall B. Rosenberg drückte es so aus: „Wenn wir unsere Bedürfnisse nicht ernst nehmen, tun es andere auch nicht.

Bedürfnisse kommunizieren – und mögliche Folgen

Und Rudi? Er ist derselbe geblieben. Ihn kümmert nicht so sehr, was Marion möchte. Und er weiß es auch nicht, zumindest nicht klar und deutlich, weil sie es ihm (noch) nicht gesagt hat. Was würde geschehen, wenn Marion mit Rudi über ihre Bedürfnisse spricht?

Rudi könnte spontan (an)erkennen, dass ihre Bedürfnisse berechtigt sind, und er könnte sich ändern. Beide würden fortan zusammen glücklich und in Frieden bis an das Lebensende leben. Das wäre das optimale, aber leider unwahrscheinliche Szenario.

Wahrscheinlicher ist, dass Rudi den eingefahrenen Kurs des Ehelebens nicht verlassen und sich nicht ändern möchte. Jahrelang hat er schließlich die Erfahrung gemacht, dass sich Marion immer wieder zurücknimmt.

Wie kann Marion damit umgehen, wenn sie gegenüber Rudi ihre Bedürfnisse zwar benennt, sie jedoch bei ihm nicht durchdringt und er nicht darauf eingeht? Natürlich könnte sie Rudi zu einer Eheberatung bewegen. Wenn er sich darauf aber nicht einlässt und lieber alles so weiterlaufen lässt wie bisher? Wie kann Marion dann gut für sich sorgen?

Möchte Marion ihr „Dauerleiden“ beenden und sich trennen? Dies wäre für sie eine Zäsur und würde ihr viel Kraft und Energie abverlangen. Oder möchte sie dann doch lieber „brav“ bleiben? Dann könnte sie weiterhin im bisherigen Umfeld leben. Ihre Ehe mit Rudi würde sich vermutlich mehr in Richtung Wohngemeinschaft entwickeln und sie würde mehr oder weniger ihr eigenes Leben leben.

Vielleicht hat Marion auch einfach Angst vor der eigenen Courage. Wenn sie ihre Bedürfnisse benennt, ist dies auch mit einer Konsequenz verbunden. Jetzt, da sie gegenüber sich selbst ihre Bedürfnisse klargemacht hat, kann es nicht mehr so bleiben wie es ist.

Wenn sich Marion für das „Weiterleiden“ entscheidet, leidet sie noch mehr, da sie von jetzt ab gewissermaßen bewusster leidet. Und wenn sie sich gegen das „Weiterleiden“ entscheidet, Rudi sich aber nicht ändern möchte, müsste sie sich konsequenterweise von ihm trennen. Oder gibt es vielleicht doch irgendeinen anderen Weg?

Depression als Belohnung fürs Bravsein? Marion kennt diese These Rosenbergs nicht. Aber wenn sie sie denn kennen würde, würde sie sie in ihrer Situation vielleicht als etwas zynisch empfinden.

Zitat des Tages

Erfolg ist nicht der Schlüssel, A. Schweitzer - Gestaltung: privat
Gestaltung: privat

Mit einem Klick auf das Bild gelangen Sie zum zugehörigen Text.

Grenzen setzen – und sie auch beachten

Marion forderte von Rudi, seine außereheliche Beziehung zu beenden. Damit setzte sie eine Grenze und gab ihm zu verstehen: „Eine außereheliche Beziehung toleriere ich nicht!“. Gleichzeitig legte sie ihm etwas von ihrem Wertesystem offen.

Rudi beendete seine Beziehung und respektierte damit Marions Grenze im Hinblick auf ihre Ehe. Doch was hätte geschehen können, wenn Rudi diese Grenze nicht beachtet hätte? Oder was könnte geschehen, falls Rudi zukünftig wieder eine außereheliche Beziehung beginnt? Schließlich kennt Rudi spätestens jetzt Marions Grenze.

Marions Bedürfnis, dass ihr Ehemann keine parallele Liebesbeziehung zu einer anderen Frau unterhält, ist verständlich und nachvollziehbar. Und die damit verbundene Grenze, eine solche Beziehung nicht zu tolerieren, ist es auch. Doch die Grenze kann bewusst überschritten werden. Dann stellt sich die Frage nach möglichen Konsequenzen.

Wie bereits angedeutet, bestünde für Marion eine mögliche Konsequenz in der Trennung. Die Grenzverletzung bedeutet das Ende ihrer Ehe. Diese Option führt Marion in der Folge in eine unliebsame Situation: andere erfahren, dass ihre Ehe gescheitert ist, sie oder Rudi müsste aus der Wohnung ausziehen, sie müsste zunächst einmal alleine leben, und sie müsste finanziell mehr für sich selbst sorgen, um ihre Lebenshaltungskosten bestreiten zu können.

Wenn für Marion die Hürde der Trennung zu hoch liegt und sie keine Konsequenzen zieht, entscheidet sie sich damit gleichzeitig dafür, ihre eigenen Grenzen zu ignorieren. Dann hätte sie gleich von vornherein darauf verzichten können, Grenzen zu setzen. Schließlich ist eine nicht respektierte Grenze in Wirklichkeit nutzlos. Dann kann Rudi gewissermaßen stillschweigend davon ausgehen, dass zukünftige Eskapaden toleriert werden.

Angenommen, Marion will um jeden Preis an ihrer Ehe festhalten. Wäre es dann vielleicht sogar sinnvoll, lieber keine Grenzen zu setzen? Nichtexistierende Grenzen können schließlich nicht überschritten oder verletzt werden. Dies ist jedoch in Wirklichkeit keine Lösung, denn Marions Wertesystem existiert ja. Dann müsste sie auch ihr Wertesystem in Teilen „über Bord werfen“. Davon abgesehen würde sie, wenn sie keine Grenzen setzt, ihre seelische Gesundheit gefährden. Demgegenüber übernimmt sie, indem sie Grenzen setzt, Verantwortung für ihre seelische Gesundheit.

Rudis außereheliche Beziehung liegt in der Vergangenheit – und die Vergangenheit lässt sich nachträglich nicht mehr ändern. Doch für die Zukunft können beide eine Vereinbarung treffen. Diese Vereinbarung kann darin bestehen, dass Marion Rudi unmissverständlich zu verstehen gibt, dass eine weitere außereheliche Beziehung das Ende der Ehe bedeutet. Dies setzt auch voraus, dass sich Marion über die Konsequenzen ihrer Grenzziehung im Klaren ist und auch bereit ist, ihre eigene Grenze zu beachten.

Am Selbstwertgefühl arbeiten

Marions Einstellung und Verhalten lässt Rückschlüsse auf ein geringes Selbstwertgefühl zu. Schon in ihrer Kindheit hatte sie gelernt, nicht in erster Linie an sich zu denken. Sie hatte aber nicht gelernt, ihre Bedürfnisse klar zu kommunizieren und Grenzen zu setzen. Eine Beziehung auf Augenhöhe hatte sie nie eingefordert.

Wenn Marion ihre Bedürfnisse und damit auch sich selbst vernachlässigt, wird sie nicht wertgeschätzt. Diese Erfahrung musste sie leider machen. Hätte Rudi sie und die Beziehung zu ihr wirklich wertgeschätzt, wäre eine außereheliche Beziehung für ihn vermutlich weniger infrage gekommen.

Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl fällt es verständlicherweise schwer, ihre Bedürfnisse und Grenzen klar zu artikulieren. Sie hoffen, von anderen gemocht zu werden, wenn sie deren vermeintlichen Vorstellungen und Wünschen entsprechen. Doch wer sich als Wunscherfüller oder Dienstleister anbietet, wird auch so wahrgenommen. Es ist keine Beziehung auf Augenhöhe. In einer Partnerschaft ist es sehr wahrscheinlich, dass ein Partner, der sich – etwas überspitzt ausgedrückt – alles gefallen lässt und sich vollständig am anderen ausrichtet, geringgeschätzt und nachlässig behandelt wird. Außerdem besteht die Gefahr, dass er irgendwann betrogen oder gar verlassen wird.

Gutes und Sinnvolles tun – ganz praktisch

Geschenk mit Text - Gestaltung: privat
Gestaltung: privat

Mit einem Klick auf das Bild gelangen Sie zum zugehörigen Text.

Ein schwach ausgeprägtes Selbstwertgefühl kann zudem die Entstehung von Depressionen begünstigen. Dies zeigen verschiedene Untersuchungen. Beispielsweise fanden die Schweizer Psychologen Julia Friederike Sowislo und Ulrich Orth von der Universität Basel anhand von insgesamt 95 einschlägigen Studien heraus, dass ein geringes Selbstwertgefühl als eine Ursache von Depressionen angesehen werden kann.

So schließt sich der Kreis. „Bravsein“ im Sinne von „die eigenen Bedürfnisse hintenanstellen und vernachlässigen“ und „eigene Grenzen nicht beachten“ deutet auf ein geringes Selbstwertgefühl hin. Mit dieser Art von „Bravsein“ geht ein erhöhtes Depressionsrisiko einher.

Wenn Marion sich dafür entscheidet, konsequent an ihrem Selbstwertgefühl, ihrer Selbstwertschätzung, zu arbeiten, macht sie sich für Rudi attraktiver – nicht körperlich, aber als Persönlichkeit. Er wird sie als selbstbewusste Partnerin wahrnehmen. Und er wird es sich zweimal überlegen, ob er sich wieder auf eine außereheliche Beziehung einlässt. Er muss schließlich konkret damit rechnen, dass Marion die Konsequenzen aus seiner Grenzüberschreitung zieht und sich von ihm trennt.

Depression als Belohnung fürs Bravsein? Ja, leider! Eine mögliche Folge, wenn man seine Bedürfnisse vernachlässigt, sich vieles – wenn nicht sogar alles – alles gefallen lässt, und nicht an seiner Selbstwertschätzung arbeitet.

* Name(n) geändert

Alle Zitate von Marshall B. Rosenberg
Wie ich entscheide, eine Situation zu betrachten, M. Rosenberg - Gestaltung: privat
Der erste Schritt bei der Heilung, M. Rosenberg - Gestaltung: privat
Wenn es darauf hinausläuft, M. Rosenberg - Gestaltung: privat
Richten wir unsere Aufmerksamkeit, M. Rosenberg - Gestaltung: privat
Wird geladen …
Zitate nach Quellen
Zitate-Suche *

* Sie können nach Text suchen, der in Zitaten vorkommt (Beispiele: „Glück“, „hoff“)

Ich bin Dieter Jenz, Begleiter, Berater und Coach mit Leidenschaft. Über viele Jahre hinweg habe ich einen reichen Schatz an Kompetenz und Erfahrung erworben. Meine Themen sind die "4L": Lebensaufgabe, Lebensplanung, Lebensnavigation und Lebensqualität.