„Wenn wir die Menschen nehmen, wie sie sind, so machen wir sie schlechter. Wenn wir sie behandeln, als wären sie, was sie sein sollten, so bringen wir sie dahin, wohin sie zu bringen sind.“
Johann Wolfgang von Goethe
Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) war ein deutscher Dichter, Naturforscher und Politiker. Nicht nur in Deutschland gilt er als einer der bedeutendsten Schöpfer deutschsprachiger Dichtung.
Menschen nicht (nur) so nehmen, wie sie gerade sind
Dass man sich über andere Menschen gelegentlich ärgert oder gar auf sie wütend ist, bleibt nicht aus und ist gewissermaßen „Beziehungsalltag“. Dann fokussieren wir uns auf das „Jetzt“. In solchen Momenten denken wir keineswegs daran, dass dieses „Jetzt“ eben nur ein „Jetzt“, eine Momentaufnahme, ist. Wir sind einfach nur enttäuscht, verärgert, wütend oder was immer unsere Stimmungslage gerade ausdrücken mag. Aber die Person, um die es geht, muss nicht so bleiben, wie sie ist. Sie kann sich verändern.
Viktor Frankl, Neurologe und Psychiater, hob hervor, dass der Mensch niemals nur so ist, wie er jetzt ist, wie er jetzt gerade erscheint. Jeder Mensch kann sich verändern und hat damit die Fähigkeit, über sich, das Bisherige, hinauszuwachsen. Diese Fähigkeit darf niemandem abgesprochen werden.
Jeder Mensch hat (s)eine Geschichte
Wie ein Mensch jetzt gerade erscheint, kommt nicht von ungefähr, denn zu jedem Menschen gehört (s)eine ganz individuelle Geschichte. Manche Menschen haben schon in ihrer Kindheit Schlimmes erlebt, beispielsweise sexuellen Missbrauch, körperliche Misshandlung oder Vernachlässigung.
Eindeutige psychische Anzeichen sind nicht unbedingt zu erkennen. Gleichwohl kann es beispielsweise zu Verhaltensänderungen kommen und auch psychosomatische Beschwerden können auftreten. Verhaltensänderungen können sich beispielsweise in Form von Ängstlichkeit, Aggressivität, Rückzugstendenzen oder Konzentrationsschwäche zeigen. Psychosomatische Beschwerden werden beispielsweise als Kopf- oder Bauchschmerzen, Schlafstörungen oder Hauterkrankungen erlebt.
Bei manchen Menschen wiederum liegen unangenehme oder gar schlimme Erfahrungen zeitlich weniger lange zurück. Körperliche und/oder seelische Gewalt in der Beziehung, Mobbing am Arbeitsplatz oder Diskriminierung wegen sexueller Orientierung sind Beispiele für Erfahrungen, die Menschen erst später in ihrem Leben machen. Und manche Menschen fügen sich auch selbst Schaden zu, beispielsweise durch Alkohol- oder Drogenmissbrauch, Spielsucht usw.
Zur persönlichen Geschichte können auch psychische Erkrankungen gehören, wie beispielsweise psychische Verhaltensstörungen (Zwangsstörungen, Phobien, Angststörungen usw.). Manche dieser Verhaltensstörungen lassen sich geschickt verbergen, und dies liegt durchaus im Interesse eines davon Betroffenen. Schließlich will man nicht mit einem sozialen Stigma behaftet sein.
Den Anderen so nehmen, wie er ist, würde bedeuten, ihn mit seiner ganzen Geschichte zu nehmen. Schließlich spiegelt sich gewissermaßen seine Geschichte in seinem Wesen. Aber diese Geschichte ist oft nicht oder zumindest nicht vollständig bekannt. Wer gibt beispielsweise schon gerne preis, dass sie oder er in der Ehe seelische Gewalt erlebt? Und dass man in der Kindheit eine Missbrauchserfahrung gemacht hat, wird gewiss auch nicht jedem erzählt.
Sind Menschen „wandelnde Fassaden“?
Wenn man einem Menschen begegnet, dann begegnet man im Grunde dem, was ein Mensch von sich zeigen möchte. In der Konsequenz hat man es, etwas überspitzt ausgedrückt, mit einer „wandelnden Fassade“ zu tun. Und wenn man nur die Fassade eines Menschen sieht, dann sieht man auch nur die „halbe Wahrheit“ dieses Menschen.
Eine Fassade kann vieles verbergen. Beispielsweise mag ein Haus von außen wunderschön anzuschauen sein, weil die Bewohner viel Wert auf den äußeren Eindruck legen. Im Inneren kann jedoch Unordnung herrschen. Aber das kann man von außen nicht sehen. Sinnentsprechend mag ein Mensch nach außen hin als sehr gepflegt und freundlich erscheinen. Aber in seinem Innenleben sieht es möglicherweise völlig anders und „unaufgeräumt“ aus.
Menschen kann es gut gelingen, ihre Mitmenschen zu täuschen. Selbst Experten der seelischen Gesundheit, wie beispielsweise Psychiater, Psychologen und Psychotherapeuten, können sich von einer Fassade blenden lassen. Wäre dem nicht so, wären alle psychiatrischen und psychologischen Gutachten ausnahmslos richtig und frei von Irrtümern. Dann gäbe es beispielsweise keine Straftäter, die trotz Gutachten mit guter Prognose wieder rückfällig werden.
Wenn viele Menschen eine Fassade von sich zeigen, bedeutet dies noch lange nicht, dass sie auch nur mit ihrer Fassade wahrgenommen werden möchten. Wer möchte nicht als „ganzer Mensch“ gesehen, verstanden, angenommen und schließlich auch geliebt werden? Die Frage stellt sich dann, wie man bei sich selbst diese Lücke zwischen dem, was ein Mensch zeigen will und dem, wie er gesehen werden will, ausfüllt.
Die eigene Blickrichtung ändern
Nimmt man einen Menschen nur so, wie er gerade ist, reduziert man ihn zum einen auf seine Fassade und zum anderen auf das Jetzt. Wenn man seinen Mitmenschen bewusst so sieht, wie er sein könnte, bekommt man eine vollkommen andere Blickrichtung. Aus einer subjektiven Zielperspektive heraus sieht man den Menschen nicht mehr nur so, wie er jetzt ist, sondern blickt auf das Potenzial. Man gesteht ihm zu, sich entwickeln zu können.
Eigene Zurückhaltung ist jedoch angesagt. Die eigene Sichtweise ist stets subjektiv, von den eigenen Einstellungen, Vorstellungen und Werten geprägt. Woher kann man wissen, dass diese auch für den Mitmenschen die Richtigen sind? Möglicherweise würde man dem Anderen sogar seine eigenen Begrenzungen und vielleicht auch Irrtümer auferlegen.
Ausnahmslos alle Menschen sind unvollkommen. In der Konsequenz ist man auch selbst unvollkommen. Schließlich ist man noch nicht am Ende seines Lebens angekommen und kann sich noch in vielerlei Hinsicht entwickeln. Wenn man sich selbst als unvollkommen wahrnimmt, kann man von seinem Mitmenschen natürlich keine Vollkommenheit verlangen.
Diese Zurückhaltung bewahrt auch davor, den Anderen auf etwas fixieren zu wollen. Man denkt in Kategorien, wie der Andere sein könnte, nicht wie er sein sollte, und lässt ihm dadurch Freiraum. Und die Zurückhaltung lässt dem Anderen auch die Freiheit, sich nicht ändern zu wollen, so zu bleiben, wie er ist.
Man blickt nicht nur auf seine Mitmenschen, sondern man wird auch selbst von seinen Mitmenschen gesehen. Die Mitmenschen haben auch ihre durchaus nicht deckungsgleichen Vorstellungen, wie man selbst sein könnte. Wie steht man zu diesen Vorstellungen, wenn sie einem denn bekannt werden?
Wenn man auf das „sein könnte“ blickt, gesteht man ganz allgemein ein „mehr als jetzt“ oder ein „besser als jetzt“ zu. Man hegt eine positive Erwartung.
Der weitere Schritt – Menschen so behandeln, als wären sie schon besser
Über den Mitmenschen nicht nur denken, wie er sein könnte, sondern ihn so behandeln, ist ein weiterer Schritt. Aber wie könnte dies konkret aussehen?
Der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers drückte es so aus: „Die Menschen werden besser, wenn man Besseres von ihnen erwartet und wenn man mit ihnen umgeht, als seien sie schon besser.“ Dies bedeutet: man nimmt schon etwas vorweg, was im Moment noch nicht vorhanden oder zumindest noch nicht sichtbar oder wahrnehmbar ist.
Wenn man eine andere Person so behandelt, als wäre sie schon besser, wertet man sie auf. Und auch die eigene Einstellung gegenüber der Person verändert sich. Man wartet nicht, bis sie sich (endlich) ändert, sondern sieht sie von Vornherein positiv und behandelt sie als „bessere Version“ des „Jetzt“. Und man nimmt die Person ernst, man achtet und respektiert sie. Die Person wird dies spüren. Und die positive Grundeinstellung einer anderen Person gegenüber wirkt sich auf die eigene Ausstrahlung aus.
Andere Menschen behandeln, als wären sie schon besser, bedeutet natürlich nicht, alles zu akzeptieren, was eine andere Person denkt oder tut. Man mag Dinge völlig unterschiedlich sehen und unterschiedliche Werte haben. Die eigenen Sichtweisen und Wertvorstellungen muss man keineswegs über Bord werfen.
Menschen so behandeln, als wären sie schon besser – Vom schlechten zum guten Schüler
Erik Finman wuchs im ländlichen Idaho, USA, auf. Seine Noten lagen meist zwischen vier und fünf (auf das deutsche Notensystem projiziert). Ein Lehrer riet ihm sogar, die Schule abzubrechen und stattdessen bei McDonald‘s zu arbeiten. Der junge Erik fühlte sich in der Schule unwohl. An manchen Tagen hatte er sogar zu viel Angst, zur Schule zu gehen.
Wegen seiner schlechten Noten sah es für Eriks Zukunft nicht gut aus. Dann jedoch, als er in den Sommerferien einen Physik-Kurs belegte, traf er auf einen Lehrer, der Potenzial in ihm sah und den er mochte. Der Lehrer förderte ihn. Plötzlich war Erik motiviert und strengte sich an. Im nächsten Schuljahr war Erik Klassenbester.
Erik Finman wurde vor allem dadurch bekannt, dass er schon sehr frühzeitig in Bitcoins investierte, von dem starken Kursanstieg profitierte und ein eigenes Unternehmen gründete. Aber dies ist eine andere Geschichte.
Die Geschichte eines schlechten Schülers, den ein Lehrer schon so behandelt, als wäre er besser, wiederholt sich tagtäglich überall auf der Welt. Und die Geschichte eines Wandels kann sich in allen möglichen Bereichen vollziehen, im Beruf, in sozialen Beziehungen oder wo auch immer.
Was bleibt unterm Strich?
Vielleicht tönt es etwas paradox: Wenn man andere Menschen so behandelt, als wären sie schon besser, tut man sich selbst etwas Gutes. Durch die positive Grundeinstellung dem Anderen gegenüber verändert sich die eigene Ausstrahlung zum Positiven. Wenn man mit dem Verhalten des Anderen nicht einverstanden ist, kann man sich ja abgrenzen wie sonst auch. Man verliert nichts, man gewinnt nur.
Die andere Person wird ebenfalls gewinnen, an Achtung und Respekt. Vielleicht erkennt sie auch das Entwicklungspotenzial für sich und verändert sich tatsächlich, um die Lücke zwischen „Jetzt“ und „Potenzial“ zu schließen.
Und wenn bei einer Person keine Veränderung und auch gar kein Veränderungswunsch erkennbar ist? Ist man dann enttäuscht? Dafür gibt es keinen Grund. Man ist nicht für den Anderen verantwortlich. Es ist und bleibt seine Entscheidung, ob und wie er sich verändern möchte. Nichts ist verloren. Immerhin hat man auch gut für sich selbst gesorgt.
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