„Es lässt sich zeigen, dass das Glück für den Menschen in der Liebe zum Leben liegt.“
Erich Fromm
Erich Fromm (1900-1980) war ein deutsch-US-amerikanischer Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe. Er versuchte, psychologisches und soziologisches Denken zu verbinden. Für Fromm ist die Freiheit zentrales Kriterium der menschlichen Natur.
Sein Hauptinteresse galt der Erforschung der psychischen Voraussetzungen für ein gelingendes gesellschaftliches Zusammenleben. Seine Beiträge zur Psychoanalyse, zur Religionspsychologie und zur Gesellschaftskritik haben ihn als einflussreichen Denker des 20. Jahrhunderts etabliert.
Die Liebe zum Leben – was ist das?
Menschen wohl aller Generationen haben sich schon die Frage gestellt: „Was ist die Liebe zum Leben und wie äußert sie sich?“ Erich Fromm gibt darauf eine Antwort. Sie ist „die leidenschaftliche Liebe zum Leben und allem Lebendigen; sie ist der Wunsch, das Wachstum zu fördern, ob es sich nun um einen Menschen, eine Pflanze, eine Idee oder eine soziale Gruppe handelt.“ Und er bezeichnet die Liebe zum Leben mit dem Begriff „Biophilie“.
Für Erich Fromm ist Biophilie eine Charaktereigenschaft des Menschen. Biophilie muss von Menschen gelebt werden, mit Leben erfüllt werden. Sonst bleibt sie ein theoretisches Konzept.
Wie äußert sich die Liebe zum Leben?
Wie ist ein biophiler Mensch beschaffen? Erich Fromm drückt es so aus: „Der biophile Mensch baut lieber etwas Neues auf, als dass er das Alte bewahrt. Er will mehr sein, statt mehr zu haben. Er besitzt die Fähigkeit, sich zu wundern, und er erlebt lieber etwas Neues, als dass er das Alte bestätigt findet. Das Abenteuer zu leben ist ihm lieber als Sicherheit. Er hat mehr das Ganze im Auge als nur die Teile, mehr Strukturen als Summierungen. Er möchte formen und durch Liebe, Vernunft und Beispiel seinen Einfluss geltend machen.“*.
Ein biophiler Mensch freut sich beispielsweise an der Natur. Er genießt es, in der Natur unterwegs zu sein, kann sich an Pflanzen, Tieren, an Landschaften, an allem was er dort wahrnimmt, freuen. Er kann sich beispielsweise über Musik und Literatur freuen, sie genießen. Und er kann sich über seine Fähigkeiten und Kompetenzen freuen, die es ihm ermöglichen, etwas zu schaffen, etwas Neues hervorzubringen. Dies schließt auch ein, das individuelle Wachstum eines oder mehrerer Menschen zu fördern, in ihnen etwas anzuregen und ihnen dabei zu helfen, es zu entfalten.
So betrachtet ist der Kreis biophiler Menschen sehr groß. Er umfasst beispielsweise Erzieher, Lehrer, Musiker, Autoren, Abenteurer, Wissenschaftler, Mediziner usw. Bekannte Personen, wie beispielweise Albert Schweitzer, Dietrich Bonhoeffer oder Mutter Teresa, gelten als biophile Menschen. Der Kreis wird erweitert um die unzähligen weniger bekannten und unbekannten Menschen, die tagtäglich ihre Liebe zum Leben ausleben.
Wenn biophile Menschen die Wirksamkeit ihrer eigenen Kräfte wahrnehmen, erleben sie Glück. Im Alltagsleben mit seinen Problemen und Konflikten mag dieses Bewusstsein des Glücks oft verschüttet sein. Dessen ungeachtet ist die Liebe zum Leben zutiefst sinnbehaftet und erfüllt das Leben mit Glück.
Albert Schweitzer, als „Urwaldarzt“ bekannt, gründete 1913 in Lambaréné im zentralafrikanischen Gabun ein Krankenhaus. Die Arbeit war zuweilen sehr beschwerlich, nicht zuletzt aufgrund des tropisches Klimas mit sehr hoher Luftfeuchtigkeit und ganzjährig gleichmäßig hohen Temperaturen. Er schrieb: „Das Miterleben des Glückes um uns herum mit dem Guten, das wir selbst schaffen können, ist das einzige Glück, welches uns das Leben erträglich macht.“. Und in anderem Zusammenhang drückte er die Liebe zum Leben so aus: „Glücklich ist der Mensch, der den Zusammenhang mit allem Lebendigen fühlt und deshalb die Menschen und das Leben liebt.“
„Glücklich ist der Mensch, der den Zusammenhang mit allem Lebendigen fühlt und deshalb die Menschen und das Leben liebt.“
Albert Schweitzer
Kann ein biophiler Mensch „ausbrennen“?
Dem oben zitierten Gedanken Erich Fromms geht folgender Satz voraus: „Glücklich wird der Mensch durch die Bestätigung seiner eigenen Kräfte, wenn er sich selbst aktiv in der Welt erlebt.“ Sich selbst aktiv erleben ist Dauerzustand, im Leben fest verankert, und deshalb kein nur gelegentlich vorkommendes Ereignis.
Vor diesem Hintergrund stellt sich unwillkürlich die Frage: Können Menschen, die durch ihr Aktivsein auch sehr viel von sich selbst geben, irgendwann ausbrennen? Werden sie nicht sogar irgendwann ausbrennen, wenn sie den Eindruck haben, immer mehr zu geben als zu empfangen? In der Tat leben biophile Menschen damit, dass die Bilanz von Geben und Nehmen dauerhaft und im Lauf der Zeit immer stärker zu ihren Ungunsten ausfallen kann.
Menschen der Geschichte, die als biophile Menschen gelten, wie etwa die bereits genannten Albert Schweitzer, Dietrich Bonhoeffer und Mutter Teresa, brannten nicht aus. Auch heute lebende biophile Menschen brennen nicht aus. Sie haben für sich die Sinnfrage beantwortet, haben ihre Lebensaufgabe gefunden und auf diese Weise ihrem Leben ein Fundament gegeben. Sie wissen, wie sie ihr Leben gestalten wollen. Sie haben sich bewusst dafür entschieden, sich für das einsetzen, was den Menschen, dem menschlichen Zusammenleben und der Natur dient. Und sie sind mehr am Sein als am Haben interessiert.
Bestätigung durch Andere nicht notwendig
Wenn ein Mensch seinem Leben eine Richtung gegeben hat und in diese Richtung mit innerer Überzeugung geht, braucht er keine Bestätigung durch andere mehr. Er handelt aus selbstbestimmtem innerem Antrieb (intrinsische Motivation). Dieser innere Antrieb steht im Zusammenhang mit Freude und Erfüllung.
Die Bestätigung biophilen Handelns durch andere Menschen, das sprichwörtliche „Auf-die-Schulter-klopfen“, mag durchaus fehlen. Doch dies ist kein Grund dafür, die Richtung zu ändern oder gar aufzugeben. Manchmal versuchen sogar wohlmeinende Mitmenschen, einen biophilen Menschen von seinem Weg abzubringen. Sie bringen durchaus vernünftige und überzeugende Argumente vor, weshalb biophiles Handeln sogar schädlich sein könnte. Auch Albert Schweitzer, als Beispiel, wurde zu bedenken gegeben, dass eine Tätigkeit in Äquatorialafrika die Gesundheit gefährde.
Resistenz gegen Enttäuschungen
Da biophile Menschen nicht aus einer spontanen Laune heraus oder durch äußere Anreize (beispielsweise öffentliche Anerkennung, Prestige) bedingt so sind, wie sie sind, sind sie gegenüber Enttäuschungen hochgradig resistent. Selbst wiederholte Enttäuschungen werfen sie nicht aus der Bahn. Schließlich handeln sie aus tiefer innerer Überzeugung, sind überzeugt, das für sie Richtige zu tun.
Albert Schweitzer, als Beispiel, erlebte während seiner langjährigen Tätigkeit in Lambaréné vielerlei menschliche Enttäuschungen. Er erlebte beispielsweise, dass die einheimische Bevölkerung andere Vorstellungen vom Einhalten von Zusagen hatte. Er konnte sich keineswegs darauf verlassen, dass seine Anordnungen auch befolgt wurden. Albert Schweitzer blieb keine andere Möglichkeit als sich auf die dort üblichen kulturbedingten und verwurzelten „Spielregeln“ einzustellen. Doch alle Schwierigkeiten und Widerstände vermochten nicht, ihm seine Liebe zum Leben zu rauben.
Gleichwohl können Enttäuschungen eine große Herausforderung darstellen, insbesondere wenn zum Umfeld zählende Menschen (wiederholt) enttäuschen. Enttäuschungen können sehr schmerzvoll sein. Da jedoch Gleichgültigkeit oder gar Hass gegenüber Mitmenschen für biophile Menschen gewissermaßen Fremdwörter sind, gewinnt letztlich die Liebe zu den Mitmenschen immer wieder die Oberhand. Ihre innere Überzeugung erweist sich als stärker.
Grenzen setzen
Die gelebte Liebe zum Leben bedeutet nicht den Verzicht darauf, anderen Menschen Grenzen zu setzen. Biophilie hat nicht zur Folge, sich ausnutzen und vielleicht sogar zum Spielball der Interessen anderer Menschen machen zu lassen. Würde man anderen keine Grenzen setzen, wäre es tatsächlich sehr wahrscheinlich, dass man irgendwann ausbrennt.
Albert Schweitzer verlangte durchaus von arbeitsfähigen Patienten eine angemessene Gegenleistung für deren Behandlung und Verköstigung. Wurde diese Gegenleistung nicht erbracht, scheute er nicht davor zurück, Essensrationen zu kürzen oder auch in Heilung befindliche Geschwüre nicht mehr zu verbinden (soweit dies medizinisch vertretbar war).
Wenn Anderen Grenzen gesetzt werden, setzt man sich gleichzeitig auch selbst Grenzen: „Bis hierhin gehe ich, aber nicht weiter“. Biophilie ist keineswegs gleichbedeutend mit Grenzenlosigkeit. Und der Wunsch, Wachstum zu fördern, wird durch das Setzen von Grenzen nicht konterkariert.
Lässt sich die Liebe zum Leben finden?
Wird die Liebe zum Leben gewissermaßen schon „in die Wiege gelegt“ oder lässt sie sich im Lauf des Lebens finden? Wäre die Biophilie bereits angeboren, bliebe für das wahrscheinlich lange restliche Leben nur noch die Möglichkeit zur Entscheidung gegen sie. Ist sie nicht angeboren, kann sich der Mensch im Lauf seines Lebens aus freiem Willen und selbstbestimmt für sie entscheiden.
Menschen können während ihres Lebens zur Überzeugung gelangen, dass die Lebensverhältnisse nicht (mehr) befriedigen. Vielleicht war es das bisherige Lebensziel, ein möglichst hohes Einkommen und Prestige zu erreichen. Auf diesem Weg hat man seine Mitmenschen eher als Mittel zum Zweck, als nützliche Ressourcen, betrachtet. Das „Haben wollen“ stand im Mittelpunkt. Doch irgendwann kam ein Punkt, an dem ein Umdenken einsetzte. Der Wunsch entstand, dem Leben mehr Tiefe zu geben und nach Freude und Erfüllung zu streben. Das „Sein wollen“ wurde wichtiger als das „Haben wollen“.
Selbst mitten im Leben ist es möglich, sein Leben in eine andere Richtung zu lenken und seine Prioritäten anders zu setzen. Wiederum Albert Schweitzer steht für Menschen, die für sich persönlich die weitreichende Entscheidung treffen, mehr sein als haben zu wollen, und Freude und Erfüllung an die erste Stelle zu setzen. Albert Schweitzer empfand es als größte Entscheidung des Lebens und drückte es so aus: „Die größte Entscheidung deines Lebens liegt darin, dass du dein Leben ändern kannst, indem du deine Geisteshaltung änderst.“
Führt die Entscheidung für Biophilie zu einem Leben des Verzichts?
Unwillkürlich stellt sich die Frage, ob Biophilie ein Leben des Verzichts bedeutet. Ist dies wirklich so? Bedeutet Biophilie, dass beispielsweise materielle Bedürfnisse hintenangestellt werden? Keineswegs! Es bedeutet jedoch ein Loslösen von Illusionen, beispielsweise der Illusion, dass man sich Freude und Erfüllung durch den Konsum von Produkten im weitesten Sinne von außen aneignen kann.
Die Entscheidung zum biophilen Leben führt vielmehr zur Stärkung der Eigenkräfte, der Kräfte, über die der Mensch von Natur aus verfügt. Ein Lottogewinn, als Beispiel, macht das Leben nicht wirklich glücklich. Viele in den letzten Jahrzehnten durchgeführte Untersuchungen konnten dies zeigen. Demgegenüber machen aktive Handlungen glücklich, die einem zutiefst Freude bereiten. Lebendiges Interesse für Menschen und Dinge steigert die Erlebnisfähigkeit. Im Ergebnis wird man spüren, dass man selbst belebt wird. Viele Menschen, die sich in einem Ehrenamt engagieren, machten und machen diese Erfahrung.
Sich aktiv für das Schicksal des Mitmenschen zu interessieren, Mitmenschen mit Nächstenliebe zu begegnen, in der Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen, all dies sind Merkmale biophilen Handelns im zwischenmenschlichen Bereich. Im persönlichen Bereich, im Umgang mit sich selbst, sind echtes Interesse an sich selbst und akzeptierende Selbstliebe die hervorstechenden Merkmale. Letzten Endes mündet die Entscheidung für Biophilie also nicht in Verzicht, sondern in Bereicherung.
* Anatomie der menschlichen Destruktivität, in: Erich-Fromm-Gesamtausgabe (GA) Band VII, S. 331
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