„Es gibt einen großen Unterschied zwischen sich verlieben und verliebt bleiben.“
Erich Fromm
Erich Fromm (1900-1980) war ein deutsch-US-amerikanischer Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe. Er versuchte, psychologisches und soziologisches Denken zu verbinden. Für Fromm ist die Freiheit zentrales Kriterium der menschlichen Natur.
Sein Hauptinteresse galt der Erforschung der psychischen Voraussetzungen für ein gelingendes gesellschaftliches Zusammenleben. Seine Beiträge zur Psychoanalyse, zur Religionspsychologie und zur Gesellschaftskritik haben ihn als einflussreichen Denker des 20. Jahrhunderts etabliert.
Vom sich verlieben zum verliebt bleiben – wie weit kann der Weg sein?
Bernd (Name geändert) und Helga (Name geändert) sind seit über 40 Jahren verheiratet. Als sie sich in einer Art Jugendgruppe oberflächlich kennenlernten, war Helga fast 17 Jahre alt, Bernd war 21. Bernd empfand sofort mehr als Sympathie für Helga. Doch zunächst blieb es dabei, dass sich beide nur in der Jugendgruppe begegneten.
Einige Zeit verstrich. Bernd gestand eines Tages Helga seine Liebe. Helga empfand noch keine starken Gefühle für Bernd, wollte ihn jedoch nicht gleich abweisen und sich selbst Zeit geben. Als bei Helga die Gefühle für Bernd stärker wurden, gab sie ihm ihr „Ja“ für eine Beziehung. Etwa drei Jahre nach ihrem Kennenlernen heirateten sie. Für beide war es eine Heirat aus Liebe.
Unterschiedliche Erfahrungen mit den Eltern
Die Beziehung der beiden war schon zu Beginn nicht unproblematisch. Bernd kannte kein harmonisches Familienleben. Seine Eltern hatten sich scheiden lassen. Er hatte nie eine von gegenseitiger Liebe, gegenseitigem Respekt und gegenseitiger Achtung getragene Beziehung zwischen Vater und Mutter erlebt. Zudem war sein Verhältnis zu seinem Vater sehr belastet. Bernd lehnte ihn ab, denn er sah in ihm die Ursache, dass seine Mutter in der Beziehung litt. Erst sehr viele Jahre später wurde ihm bewusst, dass auch sein Vater in der Beziehung sehr gelitten hatte.
Helga erlebte ein intaktes Familienleben. Sie wuchs mit mehreren Geschwistern auf. Vater und Mutter lebten in ihrer Wahrnehmung eine gereifte und harmonische Beziehung. Zu ihrem warmherzigen Vater hatte sie ein gutes Verhältnis und stand ihm etwas näher als der ordnungsliebenden und auf Sauberkeit bedachten Mutter. Oft half sie ihrem Vater bei der Gartenarbeit und genoss die Zeit mit ihm.
Die unterschiedlichen Erfahrungen in den Elternhäusern kamen in der Beziehung von Helga und Bernd immer wieder auf unterschiedliche Art und Weise zum Vorschein. Beispielsweise erschreckte es Helga, als Bernd einmal meinte, dass man ja auch so zusammenleben könne, falls man sich einmal nicht mehr lieben würde. Dies konnte sich Helga nicht vorstellen.
Über Krisenzeiten hin zur vertrauensvollen Beziehung
Die Ehe von Helga und Bernd war in den ersten Jahren von Rechthabereien, kleinen und größeren Machtkämpfen und gegenseitigen Erziehungsversuchen geprägt. Sie erlebten miteinander Höhen und Tiefen und gingen durch mancherlei Krisenzeiten. Wirtschaftliche Probleme waren es wohl, die bei Bernd der Auslöser für eine Depression waren und die Beziehung belasteten. Ein paar Jahre später erlebte auch Helga eine depressive Episode, ausgelöst durch berufliche Überlastung.
Selbst während der Krisenzeiten dachten weder Helga noch Bernd an eine Trennung. Sie wollten beide zusammenbleiben, denn das Fundament gegenseitiger Liebe und Treue war nach wie vor da. Bernd wusste, was er an Helga hatte, und Helga wusste, was sie an Bernd hatte. Wenn es Helga darauf angelegt hätte, dann hätte sie als attraktive Frau auch einen anderen Partner finden können. Und sicherlich hätte auch Bernd bei anderen Frauen Chancen gehabt. Aber beide hatten sie den Willen, zusammenzubleiben.
Heute leben Helga und Bernd in einer vertrauensvollen Beziehung. Beide lassen einander ihre Freiheiten und erleben ihre Beziehung als bereichernd. Sie bleiben verliebt und sagen sich auch häufig, dass sie einander lieben.
Veränderungen – sie lassen sich nicht umgehen
Für Helga und Bernd eröffnete sich erst im Rückblick die Erkenntnis, dass sie individuell aber auch in ihrer Beziehung viele Veränderungen erlebten und durchlebten. Während einer langjährigen Beziehung verändern sich zwangsläufig beide Partner.
Zum einen verändern sie sich physiognomisch. Mit zunehmendem Alter verändert sich auf natürliche Weise das körperliche Erscheinungsbild. Vielleicht werden die Haare grau oder sie fallen – bei Männern – aus, vielleicht legt man an Gewicht zu, oder … Jedenfalls sieht der Körper im Alter von 70 Jahren völlig anders aus als im Alter von 20 Jahren.
Zum anderen verändern sich die Seelen der Partner. Jeder der beiden Partner bleibt eine eigenständige Persönlichkeit und entwickelt sich weiter. Dabei macht jeder Partner seine ganz eigenen Erfahrungen. Seelische Verletzungen und Schicksalsschläge sind in einer Lebensgeschichte keine Ausnahme. Auch wenn ein Schicksalsschlag beide Partner gleichermaßen betrifft, wie beispielsweise der frühe Tod eines gemeinsamen Kindes, mag dieser von den Partnern völlig unterschiedlich wahrgenommen und bearbeitet werden.
Phasen einer Beziehung – hin zur gereiften Beziehung
Auch die Beziehung der Partner untereinander verändert sich im Zeitverlauf. Der Paartherapeut Roland Weber unterscheidet in einer Beziehung fünf Phasen:
- Phase 1: die große Verliebtheit,
- Phase 2: der Blick wird klarer,
- Phase 3: Gegensätze werden bekämpft,
- Phase 4: die Suche nach dem Gleichgewicht,
- Phase 5: die vertraute Beziehung.
Wenn man sich verliebt, wird im Gehirn ein wahres Feuerwerk entfacht. Der Botenstoff Dopamin, landläufig als Glückshormon bezeichnet, überschwemmt das Gehirn und lässt den Dopaminspiegel steigen. Auch der Spiegel des Hormons Oxytocin, manchmal auch als Schmusehormon bezeichnet, steigt. Wenn eine Beziehung entsteht, ist sie zunächst von einem Blick auf den Anderen durch die „rosarote Brille“ geprägt.
Das wirkliche Kennenlernen
Diese erste Phase einer Beziehung dauert grob in etwa drei bis achtzehn Monate. Aber diese Phase findet definitiv ein Ende und mündet in die nächste Phase, in der man einander klarer sieht. Verhaltensmuster, Gewohnheiten, Eigenarten, Schwächen, Sorgen und Ängste werden wahrgenommen. Nach wie vor wird das Verbindende gesehen, aber auch das Trennende wird wahrgenommen. Es stellt sich die Frage, ob man wirklich zusammenpasst.
Die dritte Phase ist im Allgemeinen von kleinen und größeren Machtkämpfen und gegenseitigen Erziehungsversuchen geprägt. Man erkennt schließlich, vielleicht auch sehr schmerzhaft, dass man den Anderen nicht ändern kann. Und man lernt schließlich, Kompromisse einzugehen und den Partner so zu akzeptieren, wie er ist, mit allen Stärken und Schwächen.
Die Beziehung reift
Wenn eine Beziehung in der vierten Phase angekommen ist, kennen sich die Partner ohne ihre Fassaden und Masken und wissen ziemlich genau, wie sie „ticken“. Illusionen sind verflogen. Man will den Anderen nicht mehr ändern. Die Beziehung an sich und der Zusammenhalt werden nicht (mehr) infrage gestellt. Gleichwohl verlagert sich der Blick vom „wir“ etwas mehr zum „ich“. Die eigene Persönlichkeitsentwicklung nimmt mehr Raum ein, aber man fördert sich auch gegenseitig. Man versucht, eine gesunde Balance zwischen „ich“ und „wir“ zu finden.
Die fünfte Phase, die Phase der vertrauten Beziehung, ist durch gegenseitige Vertrautheit und Vertrauen geprägt. Man hat keine unrealistischen Erwartungen mehr an den Anderen. Und man projiziert auch nichts mehr in seinen Partner, was dieser nicht erfüllen kann oder will. Jeder liebt den Anderen so wie er ist. Und jedem ist bewusst, dass sich jeder für sich persönlich weiterentwickelt.
Die Beziehung hat schon viel ausgehalten. Man hat gemeinsam Krisen und Tiefen erlebt, sie miteinander gemeinsam gemeistert und einander ausgehalten. Man erkennt und schätzt, dass einen der Partner bereichert. Einer ist dem Anderen ein Zuhause.
Verliebt bleiben – wie geht das?
Wie kann man in einer Beziehung verliebt bleiben? In seinem 1956 erschienenen Buch „Die Kunst des Liebens“, das mit mehr als 25 Millionen verkauften Exemplaren zu den erfolgreichsten Sachbüchern aller Zeiten zählt, beschreibt Erich Fromm die Liebe als etwas Aktives: „Liebe ist eine Aktivität und kein passiver Affekt. Sie ist etwas, das man in sich selbst entwickelt, nicht etwas, dem man verfällt.“.
Viele Menschen verwechseln „sich verlieben“ mit „lieben“. In der ersten Phase einer Beziehung, der Phase der großen Verliebtheit, sehen die Verliebten ein Zeichen für die Intensität ihrer Liebe. Dies ist jedoch ein Trugschluss, denn das Verliebtsein wird immer schwächer, je intensiver sich die Partner gegenseitig kennenlernen und erfahren.
Liebe als erlernbare Kunst
Erich Fromm beschreibt die wahre Liebe, die mehr ein Geben als ein Nehmen ist, als eine Kunst, die man erlernen kann. Diese „aktive“ Liebe, die Anwendung dieser Kunst, enthält in all ihren Formen stets folgende Grundelemente: Fürsorge, Verantwortungsgefühl, Achtung vor dem Anderen und Erkenntnis.
Der Eine kümmert sich um den Anderen und fühlt sich für dessen seelische Bedürfnisse verantwortlich. Dies bedeutet jedoch nicht, den Anderen beherrschen oder gar besitzen zu wollen. Im Gegenteil: Beide Partner haben ein Interesse daran, dass der Andere wachsen, sich entfalten und seine einzigartige Individualität ausleben kann.
Die Erkenntnis des Anderen ist nur möglich, wenn ein Partner über das eigene Interesse hinausgeht und den Anderen so sieht, wie er wirklich ist. Dies setzt jedoch voraus, den Anderen und sich selbst objektiv zu kennen. Nur dann kann man das möglicherweise irrational entstellte Bild überwinden, das man sich vom Anderen macht.
Liebe lässt Freiheit
Liebe ist nicht nur ein starkes Gefühl. Sie kann sich nicht auf ein Gefühl beschränken, denn ein Gefühl ist nicht unbedingt dauerhaft. Es kann kommen und gehen. Wahre Liebe ist eine willentliche und bewusste Entscheidung, ein Versprechen. Und sie ist ein Entschluss, sein Leben völlig an das des Partners zu binden und sich ihm ganz und ohne Garantie auszuliefern. Dennoch bleibt die Liebe das Kind der Freiheit und niemals das der Beherrschung. „Die meisten Menschen haben Angst, dass sie ihre Freiheit verlieren, wenn sie lieben, und können nicht glauben, dass die Liebe gleichzeitig die größte Entwicklung der Freiheit bedeutet.“, so drückt Fromm es an anderer Stelle (Die Antwort der Liebe) aus.
Erich Fromm kannte die von Roland Weber beschriebenen Phasen der Liebe noch nicht. Gleichwohl sind seine Anregungen und Hinweise sehr hilfreich, um zur Phase der vertrauten Beziehung zu gelangen. Lieben ist wichtiger als geliebt werden und Geben ist wichtiger als Empfangen. Bei alledem macht das Geben nicht ärmer. Der Gebende erlebt etwas im Schenken: er nimmt seine eigene Stärke und Lebendigkeit wahr. Es erfüllt mit Freude, etwas vom eigenen Leben zu geben, und wird als bereichernd erlebt.
Ist es möglich, verliebt zu bleiben? Helga und Bernd beantworten diese Frage mit einem klaren „Ja“ – und unzählige andere Paare ebenso.
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