„Der Wille zum Sinn bestimmt unser Leben! Wer Menschen motivieren will und Leistung fordert, muss Sinnmöglichkeiten bieten.“
Viktor Frankl
Viktor Frankl (1905-1997) war ein österreichischer Neurologe und Psychiater. Er begründete die Logotherapie und Existenzanalyse, die vielfach auch als die „Dritte Wiener Schule der Psychotherapie“ bezeichnet wird.
Die Geschichte von den Steinmetzen
Vor einigen hundert Jahren kam ein Wanderer an einem großen Platz vorbei. Von weitem war schon das Hämmern zu hören. Als er sich dem Platz nähert, nimmt er mehrere Steinmetze wahr, die mit ihren Werkzeugen Steine behauen. Der Wanderer fragt sich, woran die Männer arbeiten und womit sie gerade beschäftigt sind..
Dieselbe Arbeit – oder doch nicht?
Er geht auf einen der Steinmetze zu, bleibt eine Weile bei ihm stehen und beobachtet ihn beim Arbeiten. Die Anstrengung der Arbeit ist unschwer an seinem Gesicht zu erkennen. Schließlich fragt er ihn: „Was tust du gerade?“. Ohne sich von seiner Arbeit abzuwenden, antwortet der Steinmetz etwas missmutig: „Siehst du nicht? Ich behaue einen Stein“.
Der Wanderer gibt sich mit dieser knappen Antwort nicht zufrieden und wendet sich einem anderen Arbeiter zu. Dieser behaut gerade ebenfalls einen Stein und scheint mit Eifer bei der Sache zu sein. Er stellt ihm dieselbe Frage. „Ich behaue Steine, mit denen ein Spitzbogenfenster entstehen wird“, lautet seine freundliche Antwort. „Die Steine müssen gut passen. Deshalb gebe ich mein bestes und liefere gute Steinmetzarbeit ab.“.
Gerade will der Wanderer sich wieder auf seinen Weg machen, da nimmt er einen Steinmetz wahr, in dessen Augen ein gewisses Leuchten zu sehen ist. Seine Arbeit scheint ihm leicht von der Hand zu gehen. Und er scheint sich seiner Arbeit völlig hinzugeben, scheint sogar in sie versunken zu sein. Auch ihm stellt er die Frage, was er gerade tue. „Ich baue eine Kathedrale. Mit jedem Stein, den ich behaue, trage ich zu dieser Kathedrale bei. Irgendwann wird diese Kathedrale fertig und ein Haus zur Ehre Gottes sein. Vielleicht werde ich es nicht mehr erleben. Aber bestimmt werden einmal alle von dieser Kathedrale begeistert sein.“, lautet seine Antwort. Sichtlich beeindruckt zieht der Wanderer weiter.
Welche Motivationen waren bestimmend?
Der erste, etwas griesgrämige, Steinmetz arbeitete, weil er musste. Er war froh, wenn sein Arbeitstag vorüber, Feierabend, war und er seine Werkzeuge aus den Händen legen konnte. Ihm war es wichtig, einen Lohn zu bekommen, da er schließlich Frau und Kinder zu ernähren hatte. Die Arbeit war für ihn Mittel zum Zweck. Hätte er sein Geld mit anderer Arbeit leichter verdienen können, hätte er wohl sofort „den Hammer fallen lassen“.
Das Geldverdienen war dem zweiten Arbeiter nicht genug. Ihm war es wichtig, gute Arbeit zu leisten. Dies gehörte zu seinen Werten, die ihn bei seiner Arbeit leiteten. Zweifellos brauchte er das Geld, aber die Qualität seiner Arbeit hatte in seinen Augen einen hohen Stellenwert. Seine Aufgabe wollte er möglichst gut erfüllen.
Der dritte, in seiner Arbeit aufgehende, Steinmetz sah das große Ganze. Natürlich war auch für ihn der Arbeitslohn wichtig. Aber er sah weitaus mehr als den Lohn. Er sah das Gesamtbild mit Bestimmung und Sinn des Bauwerks und damit auch den Sinn seiner anstrengenden Arbeit.
Von dieser Geschichte, deren ursprüngliche Fassung Michaelangelo zugeschrieben wird, existieren sehr unterschiedliche Varianten. Es gibt aber einen gemeinsamen Nenner: den Blick auf unterschiedliche Motivationen. Oberflächlich betrachtet leisten die Steinmetze vergleichbare Arbeit. Man darf annehmen, dass sie ihr Handwerk gelernt haben. Aber mit der Sinnfrage gehen sie unterschiedlich um.
Die Frage nach dem Sinn ist zeitlos
Der Bau einer Kathedrale war eine Aufgabe, die sich über Jahrhunderte hinweg erstrecken konnte. So dauerte beispielsweise der Bau des Regensburger Doms, Kathedrale des gleichnamigen Bistums, von 1275 bis 1872 (mit längeren Unterbrechungen). Bauleute mussten angesichts der Größe des Bauwerks davon ausgehen, dass sie seine Fertigstellung nicht mehr erleben würden. Sie arbeiteten, bekamen aber das fertige Bauwerk nicht mehr zu sehen.
Heute werden nur noch äußerst selten Kathedralen gebaut. Die Frage nach dem Sinn ist jedoch zeitlos und stellt sich überall wo Menschen tätig sind. Sinnmöglichkeiten bieten sich in vielen Bereichen, auf unterschiedlichen Ebenen und in vielfältiger Form. Da ist beispielsweise das Pharmaunternehmen, das intensive Forschungsarbeit treibt, um einen neuen Impfstoff entwickeln zu können. Dieser Impfstoff könnte dazu beitragen, Virusinfektionen zu verhindern und Menschen vor potenziell tödlich verlaufenden Erkrankungen zu schützen. Oder da ist das Bauunternehmen, das ein Schulgebäude errichtet, in dem tausende Kinder ihre ersten Lernerfahrungen machen können und für ihr Leben mitgeprägt werden. Oder da ist die Schuhverkäuferin, die ihre Kunden dergestalt berät, dass sich diese in den gekauften Schuhen wohlfühlen.
Welche Motivationsfaktoren sind heute bestimmend?
Was mag Menschen heute dazu bringen, sich bei der Arbeit zu motivieren? Es sind wohl hauptsächlich drei Substantive, die die wesentlichen Motivationsfaktoren ausmachen: Gehalt, Aufgabe, Erfolg.
Der Motivationsfaktor „Gehalt“ korrespondiert mit der Einstellung des ersten Steinmetzen. Heute scheint die monatliche Gehaltsüberweisung für viele Berufstätige der wichtigste Motivationsfaktor zu sein, zumindest wenn man sich an Umfrageergebnissen orientiert. Doch ist das wirklich so?
Bei den wohl meisten Berufstätigen besteht eine enge Beziehung zwischen beruflicher Tätigkeit und den persönlichen Begabungen, Fähigkeiten und Kompetenzen. Diese bringt man in seine berufliche Tätigkeit ein und macht sie fruchtbar. Da ist beispielsweise der Ingenieur, der an einem energiesparenden Gerät mitentwickelt. Er bringt das ein, was er sehr gut oder gar hervorragend kann. Die Aufgabe erfüllt ihn und er widmet sich ihr mit Hingabe. Dass er nicht das gesamte Gerät entwickelt, sondern nur einen Teil, schmälert seine Hingabe und seinen Willen, gute Arbeit zu leisten, nicht.
Die Aufgabe fordert ständig. Nicht zuletzt fordert sie auch das Lernen von Neuem. Man muss „am Ball bleiben“, um seine Aufgabe erfüllen zu können. Aber weil man sich seiner Aufgabe gerne widmet, empfindet man es nicht als Last.
Ein dritter Motivationsfaktor ist der Erfolg. Wenn man seine Aufgabe gut erfüllt, wird der Erfolg nicht ausbleiben. Man sieht über die Aufgabe hinaus auf den Erfolg, den man erzielen wird. Ein Rechtsanwalt genießt beispielsweise seine Erfolge bei Gericht, wenn er berechtigte Interessen seiner Mandanten durchsetzen kann. Oder ein Arzt genießt seinen Erfolg, wenn er einen Patienten so behandeln konnte, dass dieser von einer schweren Krankheit vollständig genesen konnte.
Der Motivationsfaktor „Sinn“ scheint heute vordergründig keine Rolle zu spielen. Dabei ist der Sinn für das Erkennen eines Gesamtbilds enorm wichtig. Wenn man sich mit einem Sinn identifizieren kann – beispielsweise mit dem Sinn, der mit der Entwicklung eines wirksamen Impfstoffs gegen ein bestimmtes Virus, verknüpft ist – trifft man auf ein menschliches Bedürfnis: den Willen zum Sinn.
Die Aufgabe erfüllt. Der Erfolg stellt sich ein. Der wahrgenommene Sinn öffnet den Blick auf das große Ganze und vermittelt Befriedigung auf einer tiefen emotionalen Ebene. Wäre es sonst möglich gewesen, dass Menschen, wie beispielsweise Marie Curie, Henry Ford oder Albert Schweitzer Entbehrungen, Enttäuschungen und Misserfolge ausgehalten hätten? Sie erkannten einen Sinn und dieser Sinn leitete sie auch in schwierigen Zeiten.
Sinnmöglichkeiten herausfinden und bieten
In vielen Unternehmen ist es beispielsweise gang und gäbe, für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Motivationsseminare anzubieten. Das Ziel besteht darin, zu motivieren, das persönliche Leistungspotenzial besser auszuschöpfen und für das Unternehmen mehr Umsatz und damit Ertrag zu generieren.
Leider ist der Erfolg solcher Seminare oft nur kurzlebig. Meist stehen Methoden und Techniken, z. B. Verkaufstechniken, im Vordergrund. Die „Sinnfrage“ die eng mit der Frage nach dem Mehrwert für den Kunden verknüpft ist, wird, wenn überhaupt, oft nur am Rande betrachtet.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kehren anschließend wieder an ihren Arbeitsplatz, in ihr bisheriges Arbeitsumfeld zurück. Die Strukturen haben sich vermutlich zwischenzeitlich nicht verändert. Wenn der bzw. die Vorgesetzte unfähig ist, hat sich auch daran nichts verändert. Und wenn Kollegen kooperationsunwillig, veränderungsunwillig und/oder frustriert sind, dann sind sie es wahrscheinlich immer noch.
Motivation muss von innen kommen und sie muss im gewissem Einklang mit den persönlichen Lebensvorstellungen der einzelnen Person stehen. Wie lässt sich zwischen Unternehmenszielen und individuellen Lebensvorstellungen eine sinnzentrierte Verknüpfung herstellen? Wie kann dies in einer Weise geschehen, die für die jeweilige Mitarbeiterin bzw. den jeweiligen Mitarbeiter stimmig ist? Wenn diese Fragen situationsspezifisch beantwortet werden können und für Mitarbeiterinnen wie für Mitarbeiter ein Sinn klar erkennbar ist, bestehen gute Chancen für nachhaltige Veränderung.
Motivation ist dann nicht mehr „aufgepfropft“ und Motivationsseminare haben dann auch nicht mehr den allzu bekannten „Strohfeuereffekt“. Sinnverknüpfte Motivation öffnet den Weg zur Veränderungsmotivation, d. h. man hat den Wunsch und Willen, bei sich etwas nachhaltig zu verändern. Man bleibt dran und legt für sich eine neue Denk- und Verhaltensspur. Bildlich gesprochen zieht man eine neue Spur in den Neuschnee. Diese sinnverknüpfte und nachhaltige Motivation stärkt zudem auch die Widerstandskraft bei Rückschlägen.
Wenn Sinnmöglichkeiten geboten werden, treten Anreize und Belohnungen in den Hintergrund. Wie attraktiv könnten besondere Belohnungen, wie beispielsweise Leistungsprämien, sein, wenn man bereits motiviert ist? Das, was man tut, tut man ja schon sinnunterlegt und mit Hingabe. Es ist zu etwas Natürlichem geworden. Der Psychologe Marshall B. Rosenberg formulierte es so: „Belohnungen braucht man, wenn jemand etwas Unnatürliches machen soll.“. Aber Belohnungen, wenn es sie denn gibt, nimmt man natürlich gerne mit.
Menschen sind willens, einen Sinn zu finden und sich Werten hinzugeben. Wenn der Mensch jedoch in seinem Willen zum Sinn frustriert wird, macht sich in ihm, so Viktor Frankl, ein existentielles Vakuum breit. Dann können andere Bedürfnisse entstehen, wie beispielsweise das Bedürfnis nach Macht – und dies kann auch böse enden!
* Sie können nach Text suchen, der in Zitaten vorkommt (Beispiele: „Glück“, „hoff“)