„Es gibt etwas, was ihr mir nicht nehmen könnt: meine Freiheit, zu wählen, wie ich auf das, was ihr mir antut, reagiere.“
Viktor Frankl
Viktor Frankl (1905-1997) war ein österreichischer Neurologe und Psychiater. Er begründete die Logotherapie und Existenzanalyse, die vielfach auch als die „Dritte Wiener Schule der Psychotherapie“ bezeichnet wird.
Die Freiheit bewahren
Viktor Frankl reflektiert in seinem Buch „Trotzdem Ja zum Leben sagen – ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“ seine Zeit in verschiedenen Konzentrationslagern. Insgesamt rund zweieinhalb Jahre musste Frankl dort verbringen. Schon bald nach seiner Heimkehr nach Wien verfasste er dieses Buch, das in über 20 Sprachen übersetzt wurde und weltweit millionenfach verkauft wurde.
Für Frankl galt, selbst in schwersten Umständen einen Sinn zu finden. Er machte die Erfahrung, „dass man dem Menschen im Konzentrationslager alles nehmen kann, nur nicht die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen. Und es gab ein ‚So oder So‘!“
Viktor Frankl sah während dieser Zeit seinen Lebenssinn darin, seine Würde zu bewahren und moralisch integer, „anständig“, zu bleiben. Er nahm beispielsweise wahr, dass Mithäftlinge wegen ihres Hungers und aus schierer Verzweiflung das Brot Anderer stahlen. Andere wiederum teilten ihre Brotration sogar mit Mithäftlingen. Dabei erhielten sie alle die gleichen, äußerst knapp bemessenen Rationen.
Daraus schloss Frankl, dass dem Menschen in jeder Situation Entscheidungsfreiraum bleibt, und sei er auch noch so klein. Diese Entscheidungsfreiheit besteht unabhängig von der Situation und unabhängig davon, wie schlecht es dem Menschen gerade geht. In derselben Lebenssituation haben Menschen die Freiheit, unterschiedliche Handlungsentscheidungen zu treffen.
In der Konsequenz ist es der persönliche Verdienst des Menschen, so Frankl, wenn er etwas Sinnvolles tut. Wenn er hingegen das Gegenteil tut, ist es seine persönliche Schuld.
Im Übrigen gehörte für Frankl zu einer Erfahrung von Freiheit auch der „Lagerhumor“. Dieser habe ihm aus dem Elend geholfen, wenn auch nur für wenige Sekunden oder Minuten.
Das „So oder So“ im realen Leben – Wie kann man auf Verletzungen reagieren?
Zu allen Zeiten wird Menschen Schlimmes angetan. Da ist beispielsweise das sexuell missbrauchte Kind, das für den Rest seines Lebens darunter leidet. Oder da wird in einer Freundschaft das Vertrauen gebrochen und für eine Person hat dies schwerwiegende Konsequenzen. Oder da ist die ungerechtfertigte Anschuldigung, die einen verletzt. Die Liste der seelischen Verletzungen, die Menschen einander zufügen (können), ist nahezu endlos lang.
Wie kann man auf Verletzungen reagieren? Und wie steht es um die Freiheit, zu wählen, wie man auf das reagiert, was einem angetan wird? Meistens ist nicht nur eine Art der Reaktion möglich. Welche ist die Angemessene?
Ist Rache sinnvoll?
Nach einer erlittenen Verletzung, die oft auch als Demütigung empfunden wird, drängen sich unwillkürlich Rachegedanken auf. Aber ist Rache sinnvoll?
„Wie könnte ich es … heimzahlen?“, mag man sich unwillkürlich fragen. Dann macht man sich mehr oder weniger intensiv Gedanken, wie man dem Verletzenden schaden könnte, ohne selbst erneut verletzt zu werden. Vielleicht überlegt man sich, wie man sich versteckt rächen könnte, beispielsweise durch Sabotage. Man mag sich eine Methode ausdenken, die es dem Verletzenden schwermacht, den „Rächer“ eindeutig zu identifizieren. Oder man überlegt sich andererseits, wie man sich offen rächt und noch „eine Schippe drauflegt“. Man rächt sich also in einer Weise, die den Verletzenden stärker schädigt als man die selbst erlittene Verletzung einschätzt.
Was wäre mit Rache gewonnen? In der Sache rein gar nichts! Zwar hätte man nachgewiesen, dass man dazu fähig ist, zurückzuschlagen, aber man hätte gleichzeitig – zumindest, wenn man selbst als Rächer identifizierbar ist – eine Eskalation provoziert. Vielleicht würde sich eine Spirale gegenseitiger Verletzungen entwickeln. Und man würde darüber hinaus einer möglichen späteren Versöhnung Steine in den Weg legen.
Ist Rache ein Zeichen von Stärke? Der Kommunikationswissenschaftler, Psychotherapeut und Philosoph Paul Watzlawick sieht es jedenfalls nicht so. Er betrachtet Rache nicht als Zeichen der Stärke, sondern als Zeichen der Machtlosigkeit. Er drückte es so aus: „Rache ist eine Handlung, die man begehen möchte, wenn und weil man machtlos ist: Sobald aber dieses Gefühl des Unvermögens beseitigt wird, schwindet auch der Wunsch nach Rache.“.
Ist Relativieren sinnvoll?
Wenn Rache nicht weiterbringt, welche Möglichkeiten bestehen dann, für sich selbst einen gangbaren Weg zu finden, mit einer seelischen Verletzung fertig zu werden?
Ein Weg führt zum Relativieren einer erlittenen Verletzung. Es wird versucht, der Schwere des Vorfalls ein geringeres Maß zuzuweisen: „Eigentlich war es ja gar nicht so schlimm“.
Natürlich lassen sich immer Argumente finden, eine Verletzung zu relativieren. In der Welt geht es äußerst ungerecht zu und zu allen Zeiten geschehen Unglücke, die Menschen in tiefe Not stürzen. Verglichen damit wird die eigene Verletzung tatsächlich oft als gar nicht so schlimm empfunden. Sie ist aber trotzdem da und für den Verletzten ist sie zumindest so schlimm, dass er mehr oder weniger häufig daran denkt.
Wenn man als in der Seele Verletzter das Relativieren zulässt, betrügt man sich im Grund genommen selbst. Man gaukelt sich selbst eine einigermaßen heile Welt vor, aber die Verletzung ist dennoch da. Man bestreicht gewissermaßen eine von Rost befallene Oberfläche mit frischer Farbe. Diese Art einer Problembehandlung erweist sich als nur vorübergehende Lösung. Eine Zeit lang verbirgt sich der Rost unter der aufgetragenen Farbe. Früher oder später dringt der Rost aber wieder durch.
Das Relativieren bringt in Wirklichkeit nicht weiter. Es ist letzten Endes ein untauglicher Versuch, Schmerz zu lindern.
Ist Delegieren sinnvoll?
Die dritte Möglichkeit, mit einer erlittenen Verletzung umzugehen, besteht darin, sie so stehen zu lassen, wie sie empfunden wird. Die erlittene Verletzung ist aber nicht Anlass, selbst Rache zu üben. Sie wird auch nicht relativiert und damit abgewertet. Sie wird vielmehr in ihrer ganzen Tragweite und ohne Abstriche als Faktum akzeptiert.
Die Verletzung bleibt aber nicht unbehandelt stehen, sondern sie wird gewissermaßen „überwiesen“. Im Fall einer konkreten Straftat ist die Justiz „Empfänger“ der Überweisung. Bei nicht strafbewehrten Verletzungen im zwischenmenschlichen Bereich kommt eine moralisch gerechte außernatürliche Instanz als „Empfänger“ infrage.
Wer mag eine derartige gerechte Instanz sein? Je nach eigener spiritueller Einstellung haben verschiedene Vorstellungen ihren Raum. Christen mögen an Gott denken, Agnostiker und Atheisten eher an eine personalisierte Gerechtigkeit. Dabei ist noch nicht einmal entscheidend, ob diese Instanz wirklich existiert oder lediglich imaginiert ist.
Man mag sich beispielsweise sagen: „Möge … seine gerechte Strafe für sein Verhalten empfangen. Das überlasse ich jetzt …“. Die Strafe muss nicht jetzt sofort und an Ort und Stelle vollzogen werden. Es bleibt der gerechten Instanz überlassen, wie das Strafmaß ausfällt und wann die Strafe ansteht.
Bildlich gesprochen, ist der Vorgang „Verletzung durch …“ vom Schreibtisch weggeräumt und außer Reichweite. Dies allein verhindert natürlich nicht, dass man sich gelegentlich an die erlittene Verletzung erinnert. Aber es gibt ein Gegengewicht: das Bewusstsein, dass die Verletzung „weg-delegiert“ und einer gerechten moralischen Instanz überlassen ist. Man braucht sich nicht mehr selbst darum zu kümmern.
Ist Delegieren nicht eine zu einfache, letztlich eine „billige“ Methode, mit einer erlittenen Verletzung umzugehen? Zumindest ist es eine Methode, die das Opfer der Verletzung entlastet.
Verzeihen oder sogar vergeben?
„Verzeihen“ bedeutet das Gegenteil von „beschuldigen“. Eine Anklage oder Beschuldigung wird zurückgezogen oder fallen gelassen. Für den Verletzten würde dies bedeuten, den Verletzenden nicht mehr auf den Vorfall anzusprechen. Für den Verletzten ist die Angelegenheit gewissermaßen „vom Tisch“, auch wenn er sie nicht vergisst und damit auch nicht verdrängt.
Durch den bewussten Akt des Verzeihens entlastet sich der Verletzte vordergründig. Seine Gefühle stehen seinem Willen aber möglicherweise noch entgegen. Der Vorfall ist schließlich für ihn nicht vergessen und belastet ihn weiterhin.
Einen Schritt weiter kann der Verletzte gehen, wenn er dem Verletzenden vergibt. Vergeben bedeutet, den Verletzenden nicht weiter zu beschuldigen, und darüber hinaus, ihn freizusprechen. Wer freigesprochen ist, der kann nicht mehr mit einer Schuld konfrontiert werden. Für den Verletzten bedeutet dies, loszulassen. Der Schritt vom Verzeihen zum Vergeben mag durchaus sehr schwierig sein und viel Zeit brauchen.
Wenn der Verletzte vergibt, erkennt er damit keineswegs an, dass der Verletzende Vergebung verdient hat. Vielmehr geschieht Vergebung wohl immer unverdient. Und der Verletzte drückt damit auch mitnichten aus, alles einfach vergessen zu wollen.
Der Verletzte lässt etwas los, was ihn selbst belastet. Vielleicht kümmert es den Verletzenden nicht im Geringsten, ob dieser Vorfall das Opfer der Verletzung belastet oder nicht. Oft ist es sogar so. Im Ergebnis sorgt der Verletzte für sich selbst und tut sich selbst etwas Gutes: er entlastet sich, nimmt sich selbst eine Last.
Vergeben bedeutet also nicht, dass der Verletzte so tut als wäre nichts geschehen. Vergeben bedeutet auch nicht, einen „Freifahrschein“ auszustellen und es dem Verletzenden zu erlauben, zukünftig beliebig auf ihm „herumzutrampeln“. Und schließlich schließt das Vergeben nicht aus, dass sich der Verletzte abgrenzt.Der Verletzte kann entscheiden, ob er sich zukünftig auf einen Kontakt mit dem Verletzenden einlässt oder nicht und wie intensiv dieser Kontakt gegebenenfalls sein soll.
Im Übrigen bilden Delegieren und Vergeben ein gutes Gespann. Der Verletzte spricht den Verletzenden frei und „überweist“ seine Verletzung.
Freiheit der Wahl
Die vier kurz skizzierten Möglichkeiten drücken eine Freiheit der Wahl aus, wie man auf eine seelische Verletzung reagieren kann. Diese Freiheit wird allerdings erst wirksam, wenn man dem spontanen Reiz der Reaktion, vielleicht dem Reiz zur Rache, widersteht und eine zeitliche Distanz zwischen Ereignis bzw. Reiz und der Reaktion darauf schafft. Das sprichwörtliche „eine Nacht darüber schlafen“ erweist sich als hilfreich dabei, klare Gedanken zu fassen und gut zu überlegen, wie man auf das, was einem angetan wurde, am besten reagiert. Auf diese Weise kann man auch bewusst Verantwortung für sich selbst übernehmen.
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