„Wir erfinden unseren Auftrag in dieser Welt nicht, sondern wir ent-decken ihn. Er liegt in uns und wartet darauf, verwirklicht zu werden. Jede/r hat eine persönliche Berufung oder Mission im Leben; jede/r muss einer bestimmten Aufgabe nachkommen, die auf Erfüllung drängt. Der Auftrag jedes Menschen ist genauso einzigartig wie die Chance, ihn zu erfüllen.“
Viktor Frankl
Viktor Frankl (1905-1997) war ein österreichischer Neurologe und Psychiater. Er begründete die Logotherapie und Existenzanalyse, die vielfach auch als die „Dritte Wiener Schule der Psychotherapie“ bezeichnet wird.
Entdecken – was kann entdeckt werden?
Frank (Name geändert) orientiert sich im Leben neu. Eine Sinnkrise brachte ihn auf diesen Weg. Vor seiner Krise war er ganz in seinem Beruf aufgegangen und da war es sein einziges Ziel, beruflich erfolgreich zu sein. Seinen Kindern wollte er etwas hinterlassen. Doch in seinem Leben gab es eine Zäsur. Jetzt kann er nicht mehr so weitermachen wie bisher.
Da Frank nicht mehr der Jüngste ist, will er mit seiner Zeit sorgsam umgehen. Er möchte seine weitere Lebenszeit so gestalten, dass sie ihm ein möglichst hohes Maß an Erfüllung und Zufriedenheit bringt. Doch was ist es, was ihn zutiefst erfüllt und zufrieden macht? Wie kann er es herausfinden?
Vielleicht muss es Frank aber überhaupt nicht herausfinden, weil er es in seinem tiefsten Inneren schon weiß. Vielleicht hat er seine Sehnsüchte und Träume, die er früher einmal hatte, schlichtweg vergessen oder dem „Überleben“ im Alltag geopfert. Das Streben nach beruflicher Karriere, die Familiengründung oder was immer es auch sonst noch gewesen sein mag, hat sein Leben in eine bestimmte Spur gelenkt. Und dann war seine Lebensrealität weit von dem entfernt, was er sich vielleicht einmal vorgenommen hatte, damals, als er seine Sehnsüchte und Träume noch wahrnahm.
Wenn er sich nicht sicher ist und auf „Entdeckungsreise“ geht, stehen ihm im Wesentlichen zwei Wege zur Wahl. Eine Möglichkeit besteht darin, gewissermaßen zu experimentieren, verschiedenes auszuprobieren und dann zu entscheiden, was ihm am meisten zusagt. Doch diese Vorgehensweise erfordert Zeit und auch eine gewisse Frustrationstoleranz. Es könnte schließlich sein, dass er über längere Zeit hinweg nicht das findet, was er eigentlich sucht. Möglicherweise findet er aber auch bald das, was er sucht.
Eine alternative Möglichkeit besteht darin, sich auf seine Gaben und Fähigkeiten zu besinnen, die ihm schon „in die Wiege“ gelegt wurden. In Franks bisherigem Leben haben sich bei ihm sehr wahrscheinlich auch Interessen und Visionen herausgebildet. Es gibt Dinge, die er richtig gerne macht oder in Zukunft machen würde, wenn er die Zeit dazu hätte. Es gibt etwas, wofür sein Herz schlägt, wofür er sich richtig begeistern kann, wofür er sich einsetzen möchte. Jetzt ist es nicht mehr nur das schon in ihm Angelegte, sondern jetzt kommt noch Leidenschaft hinzu.
Auf seiner Entdeckungsreise wird Frank seine Berufung entweder bestätigen, weil er sie schon kennt, oder er wird sie neu entdecken. Und sehr wahrscheinlich wird er auch seine Lebensaufgabe (neu) entdecken. Es wird für ihn jedenfalls eine spannende Reise.
Die Berufung – welche Auswirkungen hat sie?
Der Begriff „Berufung“ – darin steckt auch „Ruf“ – hat mehrere, fest umrissene Bedeutungen. Im allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnet Berufung eine Art innerer Antrieb, der einen Menschen zur Übernahme einer bestimmten Aufgabe bewegt. Auf weitere Bedeutungen dieses Begriffs im Rechts- und Personalwesen oder auch im Bereich der Spiritualität wird an dieser Stelle nicht eingegangen.
Hat jeder Mensch eine Berufung für sein Leben? Rein rational betrachtet verfügt jeder Mensch über einen inneren Antrieb, ob noch ungerichtet oder schon auf eine bestimmte Richtung oder gar Aufgabe fixiert. Jeder Mensch hat Gaben, Fähigkeiten, Interessen und Visionen, die er mittels seines Antriebs entwickeln und ausleben kann. Gaben, Fähigkeiten, Interessen und Visionen formen ein einzigartiges Profil, das in der persönlichen Berufung zur Wirkung kommt. Die Antwort ist also ein klares und uneingeschränktes „Ja“.
Frank findet seine Berufung, indem er sich bewusst macht, was in ihm bereits angelegt ist. Es verbindet sich mit dem, wofür sein Herz schlägt. Jetzt „spricht“ seine Seele. Und er erkennt, wo etwas getan werden muss und will sich aus freiem Willen und eigenem Antrieb dabei einbringen. Aristoteles, griechischer Universalgelehrter, drückte es so aus: „Wo deine Talente und die Bedürfnisse der Welt sich kreuzen, dort liegt deine Berufung.“
Es mag sein, dass Frank einige Zeit braucht, um seine Berufung zu klären. Schließlich gibt es die Anforderungen, Herausforderungen und Zwänge des Alltagslebens, die es ihm erschweren können, seine Berufung auch anzunehmen. Es mag sein, dass die innere Stimme sagt: „Ich weiß zwar, in welche Richtung es geht, aber ich kann ihr nicht folgen, weil …“. Frank muss sich die Zeit der Klärung zugestehen, denn es lohnt sich. Die Aussicht besteht, Jahre im Einklang mit seiner Berufung zufrieden und glücklich zu leben.
Wenn Frank seine Berufung geklärt hat, gibt er seinem Leben eine klare Richtung. Jean Monbourquette, Tiefenpsychologe, klinischer Psychologe und Theologe, formulierte es so: „Wenn ein Mensch seine eigene Berufung entdeckt, dann wirkt sich das klärend auf alle seine Lebensbereiche aus.“
In weiterer Konsequenz gewinnt Frank Profil und Anziehungskraft. Die Motivation kommt aus ihm selbst heraus, und das, was er tut, fällt ihm leicht. Manchmal geht sogar alles wie von selbst. Und er wird Lebensqualität und Lebensfreude wahrnehmen, denn Lebensqualität und Lebensfreude werden zu etwa 80% davon bestimmt, wie die Berufung ausgelebt wird.
Die Lebensaufgabe – was drängt auf Erfüllung?
Was hat Frank als seine Berufung entdeckt und was sieht er als die einzigartige Aufgabe, die zu seinem einzigartigen Profil passt und auf Erfüllung drängt? Diese Fragen sind der Leitstrahl, sie führen Frank zu seiner Lebensaufgabe.
Die Geschichte ist voll von Beispielen, wie Menschen ihre Berufung und dann auch ihre Lebensaufgabe gefunden haben. Trotz mancher Rückschläge blieben sie ihrer Berufung und Lebensaufgabe treu.
Marie Curie
Stellvertretend für die Vielen sei die Lebensgeschichte Marie Curies (1867-1934) herausgegriffen und kurz skizziert. Die spätere Trägerin der Nobelpreise für Physik (1903, für ihre Arbeiten über die Strahlungsphänomene) und Chemie (1911, für die Entdeckung der radioaktiven Elemente Polonium und Radium) wuchs im damals zum Russischen Kaiserreich gehörenden Teil des heutigen Polen auf.
Nach dem Abitur, das sie als 15-jährige ablegte, blieb ihr ein Studium verwehrt. Frauen waren in den 1880er Jahren an Universitäten nicht zugelassen. Da ein Auslandsstudium aus finanziellen Gründen nicht möglich war, suchte sie sich einen anderen Weg. Sie nahm an Kursen der heimlich organisierten Fliegenden Universität teil, die eine akademische Bildung ermöglichte. Diese Kurse mussten in Privatwohnungen stattfinden, in ständiger Sorge vor Entdeckung und Verhaftung.
1891 konnte Marie Curie mit etwas zusammengespartem Geld nach Paris übersiedeln und ein Studium der Mathematik und der Physik an der Sorbonne beginnen. Ihre anfänglichen Schwierigkeiten, die französische Sprache zu verstehen, machten es ihr nicht einfach, den Vorlesungen zu folgen. In sehr ärmlichen Verhältnissen lebend, arbeitete sie fieberhaft daran, bestehende Wissenslücken zu schließen und konzentrierte sich voll auf ihr Studium, das sie schließlich erfolgreich abschloss.
Die harte und entbehrungsreiche Arbeit Marie Curies trug ihre Früchte. Erst alleine, später mit ihrem Ehemann Pierre Curie (bis zu dessen Tod im Jahr 1906), und schließlich mit Mitarbeitern am Radium-Institut, forschte sie intensiv. Nach dem Unfalltod ihres Ehemanns übernahm sie den Lehrauftrag ihres Ehemannes und lehrte an der Sorbonne. Sie war die erste Frau, die eine ordentliche Professur für Physik an dieser Universität erhielt.
Marie Curie, deren Lebensweg in dem von ihrer Tochter Eve Curie verfassten Buch „Madame Curie“ sehr anschaulich geschildert wird, verfolgte ihren Weg sehr zielstrebig. Sie hatte eine Sache zu der ihren gemacht und dafür sehr viele Entbehrungen auf sich genommen. Von zeitweise schwierigen und unzureichenden Arbeitsbedingungen und mancherlei Rückschlägen ließ sie sich nicht beirren.
Die Beziehung zwischen Berufung und einem Ziel drückte Marie Curie so aus: „Wir müssen glauben, dass wir für etwas berufen sind und wir dieses Ziel auch erreichen werden.“ Der Aspekt der Lebensaufgabe scheint hier durch: „Leicht ist das Leben für keinen von uns. Doch was nützt das, man muss Ausdauer haben und vor allem Zutrauen zu sich selbst. Man muss daran glauben, für eine bestimmte Sache begabt zu sein, und diese Sache muss man erreichen, koste es, was es wolle.“
Frank
Frank ist eine einzigartige Person mit einem einzigartigen Profil. Er ist nicht mit irgendeiner anderen Person auf der Erde vergleichbar. Dies bedeutet auch, dass er sich nicht mit anderen Menschen messen muss und dies auch überhaupt nicht kann.
Wenn er seine Berufung erkannt hat, wird es ihm nicht schwerfallen, die Frage zu beantworten, was für ihn persönlich auf Erfüllung drängt. Die Antwort auf diese Frage kann auch nur von ihm selbst – und aus sich heraus – kommen. Niemand anderes kann sie für ihn beantworten. Deshalb ist die Gefahr sehr gering, dass sich Frank hinsichtlich seiner Lebensaufgabe irrt.
In jedem Fall wird Franks Lebensaufgabe mit seinen persönlichen Stärken verknüpft sein. Er wird seine persönlichen Neigungen, Fähigkeiten und Kompetenzen ausleben können. Sonst würde es ihm an Begeisterung fehlen. Und wenn die Begeisterung fehlt, wird er Misserfolge, Anfeindungen und sonstige Widerstände nicht längerfristig aushalten können.
Hätte Frank jedoch den Eindruck, zunächst an seinen Schwächen arbeiten zu müssen, womöglich um Schwächen in Stärken zu verwandeln, wäre dies ein Warnsignal. Weshalb sollte er Schwächen zu Stärken machen wollen, wenn er doch schon Stärken besitzt?
Was geschieht, wenn die einzigartige Chance nicht genutzt wird?
Viktor Frankl sieht es als ein Muss, der bestimmten Aufgabe nachzukommen, die auf Erfüllung drängt. Aus seiner Sicht als Neurologe und Psychiater hat der Mensch in dieser Hinsicht keine Wahl, denn sonst würde etwas fehlen. Der Religionsphilosoph Martin Buber sah es aus einem anderen Blickwinkel: „Jeder ist dazu berufen, etwas in der Welt zur Vollendung zu bringen.“ Jean Monbourquette wählte drastische Worte: „Das Universum verarmt, sooft eine Pflanzen- oder Tierart verschwindet; erst recht verarmt es, wenn ein bestimmter Mensch seine Lebensaufgabe nicht sieht oder sich dagegen sperrt, sie zu erfüllen.“
Wohl niemand würde Armut mit dem Fehlen einer Aufgabe in Verbindung bringen. Albert Schweitzer, Arzt und Philosoph, stellt diese Verbindung tatsächlich her: „Der ärmste Mensch ist der, der keine Aufgabe mehr hat.“ Armut hat, so gesehen, nicht nur die oft assoziierte Bedeutung von finanzieller Armut.
Für Frank ist es spannend, Berufung und Lebensaufgabe zu entdecken bzw. wieder neu zu entdecken. Das Ausleben seiner Lebensaufgabe ist nicht minder spannend.
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