„Das Wissen um eine Lebensaufgabe hat einen eminent psychotherapeutischen und psychohygienischen Wert. Wer um einen Sinn seines Lebens weiß, dem verhilft dieses Bewusstsein mehr als alles andere dazu, äußere Schwierigkeiten und innere Beschwerden zu überwinden.“
Viktor Frankl
Viktor Frankl (1905-1997) war ein österreichischer Neurologe und Psychiater. Er begründete die Logotherapie und Existenzanalyse, die vielfach auch als die „Dritte Wiener Schule der Psychotherapie“ bezeichnet wird.
Was ist der Sinn …?
„Was soll ich jetzt daheim anfangen?“, mag sich der erfolgreiche Geschäftsführer eines Unternehmens fragen, der das Renteneintrittsalter schon längst überschritten hat. Er will noch nicht in Rente gehen und so lange es geht noch berufstätig bleiben.
„Ich verdiene zwar gutes Geld, aber mein Beruf gibt mir keinen Sinn mehr. Die Kunden, mit denen ich jeden Tag zu tun habe, gehen mir nur noch auf den Geist“, mag sich die berufstätige Frau sagen. Sie würde am liebsten in einem anderen Beruf eine neue Herausforderung suchen, aber das ist aus finanziellen Gründen leider nicht möglich.
„Jahrzehntelang arbeiten, immer der gleiche Trott. Morgens zur Arbeitsstelle, arbeiten, abends geschafft und müde zurück. Kaum noch Zeit für Entspannung. Lange halte ich das nicht mehr aus. Soll das alles sein?“, mag sich der Berufstätige fragen. Er will gerne heraus aus dem Trott, aber ihm fehlen Alternativen.
„Meine Frau ist gestorben. Sie fehlt mir so sehr. Wir haben rund 20 gemeinsame und glückliche Jahre verbracht. Ich bin nicht mehr ich, gehe wie ein Zombie durch die Tage. Ich sehe für mein Leben keinen Sinn mehr.“, mag sich ein trauernder Witwer sagen. Er weiß nicht weiter, der Schmerz über den Verlust ist ständig gegenwärtig.
Die Sinnfrage stellt sich nicht nur an markanten Lebensstationen, wie beispielsweise dem Ende der Berufstätigkeit. Auch mitten im Leben kann sich über die Zeit hinweg etwas gewissermaßen aufstauen und sich irgendwann in den Vordergrund drängen.
Lebensenergie auch unter schwierigsten Umständen
An einem lauschigen Sommerabend bei einem Gläschen Wein philosophierend auf der Terrasse sitzen und über den Sinn des Lebens nachdenken – das war keineswegs die Situation, in der sich Viktor Frankl befand. Ganz im Gegenteil: er musste traumatische Erfahrungen machen.
Als Juden wurden Viktor Frankl, seine Frau und seine Eltern im September 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Während seine Frau im KZ Bergen-Belsen umkam, erlebte er eine wahre Odyssee durch verschiedene Konzentrationslager.
Seine Eindrücke und Erfahrungen aus dieser Zeit verarbeitete Viktor Frankl in dem bald nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager verfassten Buch „… trotzdem Ja zum Leben sagen – ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“. Während viele andere an dem Erlebten zerbrachen, vertrat Frankl die Auffassung: Es gilt, selbst in schwersten Umständen einen Sinn zu finden.
Viktor Frankl machte selbst die Erfahrung, „dass man dem Menschen im Konzentrationslager alles nehmen kann, nur nicht die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen. Und es gab ein ‚So oder So‘!“. Er erkannte, dass wer ein Wozu im Leben hat, fast jedes Wie ertragen kann.
In seinem Buch beschreibt er, dass diejenigen Häftlinge eine bessere Überlebenschance hatten, die jemanden hatten, der auf sie wartet: die Familie, ein geliebtes Kind, einen Partner oder eine wichtige Aufgabe. Die Überlebenschance war höher, wenn sie Hoffnung, einen Sinn oder ein Ziel hatten, das ihnen die Kraft zum Weiterleben gab.
Weiter heißt es in seinem Buch: „Wehe dem, der kein Lebensziel mehr vor sich sah, der keinen Lebensinhalt mehr hatte, in seinem Leben keinen Zweck erblickte, dem der Sinn seines Daseins entschwand – und damit jedweder Sinn eines Durchhaltens. Solche Leute, die auf diese Weise völlig haltlos geworden waren, ließen sich alsbald fallen.“
Inmitten der Gedanken, die angesichts unmenschlicher Bedingungen ums pure Überleben kreisten, entwarf Viktor Frankl eine Art „innerer Hoffnungsfilm“, der ihn in eine bessere Zukunft versetzte: „Da gebrauche ich einen Trick: Plötzlich sehe ich mich selber in einem hell erleuchteten, schönen und warmen, großen Vortragssaal am Rednerpult stehen, vor mir ein interessiert lauschendes Publikum in gemütlichen Polstersitzen – und ich spreche; spreche und halte einen Vortrag über die Psychologie des Konzentrationslagers! […] Und mit diesem Trick gelingt es mir, mich irgendwie über die Situation, über die Gegenwart und über ihr Leid zu stellen, und sie so zu schauen, als ob sie schon Vergangenheit darstellte und ich selbst, mitsamt all meinem Leiden, Objekt einer interessanten psychologisch–wissenschaftlichen Untersuchung wäre, die ich selber vornehme.“
Die Vorstellung, über das zu berichten, was er soeben noch durchmachen musste, gab ihm Kraft zum Durchhalten und Überleben. Genau wie er es sich in seinem „Hoffnungsfilm“ vorgestellt hatte erfüllte es sich schließlich.
Krisenintervention für arglistig getäuschte Menschen
Das Ghetto Theresienstadt (eingerichtet im November 1941 als Sammel- und Durchgangslager) war im Prinzip eine Sonderform eines Konzentrationslagers. Die Bezeichnung „Ghetto“ (verharmlosend auch „jüdischer Wohnbezirk“ genannt) sollte den dort lebenden Menschen einen längeren Aufenthalt suggerieren. Insgesamt mehr als 140 000 Menschen waren im Ghetto während seines Bestehens interniert. Mehr als 33 000 Menschen starben dort.
Nach dem Plan von Reinhard Heydrich (seinerzeit stellvertretender Reichsprotektor in Böhmen und Mähren) sollte das Ghetto Theresienstadt als „Altersheim für Juden“ aus Deutschland dienen. Die meisten Juden, die ab Juni 1942 nach Theresienstadt deportiert wurden, schlossen auf Veranlassung der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) mit der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland einen sogenannten Heimeinkaufsvertrag ab. Im Heimeinkaufsvertrag wurde den älteren Juden die lebenslange kostenfreie Unterbringung, ihre Verpflegung und Krankenversorgung zugesagt.
Mit den Heimeinkaufsverträgen wurde auf zynische Weise die Illusion erweckt, die Deportierten wären als Bevorzugte auf dem Weg in eine Art Privilegierten-Ghetto. Tatsächlich fanden die sie jedoch in Theresienstadt überfüllte und kaum geheizte Massenunterkünfte in alten Kasernen, unzumutbare hygienische Zustände, mangelhafte Ernährung und unzureichende ärztliche Versorgung vor. Da Medikamente für grassierende Krankheiten fehlten, starben viele Menschen.
Die meisten der im Lager eintreffenden Deportierten waren völlig unvorbereitet und deshalb überrascht und schockiert von dem, was sie in Theresienstadt vorfanden. Viele Häftlinge wählten angesichts der Verhältnisse den Freitod. Auf dem Höhepunkt der Überfüllung und der Sterblichkeit wurde Ende September 1942 das Referat „Krankenbetreuung“ als Unterabteilung der „Fürsorge“ gegründet. Mit der Leitung wurde Viktor Frankl, zuletzt Leiter der neurologischen Abteilung des Rothschild-Spitals in Wien, beauftragt. Die Selbstmordprävention zählte zu den Schwerpunkten seiner Arbeit. Schon Ende der 1920er Jahre hatte er in Wien kostenlose Jugendberatungsstellen mit dem konkreten Ziel organisiert, die Zahl der Selbstmorde Jugendlicher zu verringern, was auch gelang.
Viktor Frankl ging davon aus, dass die Lagerinsassen bei entsprechender Hilfestellung eine größere Überlebenschance haben. Zusammen mit Regina Jonas (eine deutsche Rabbinerin und zugleich die erste Frau weltweit, die zum Rabbiner ordiniert wurde und in diesem religiösen Amt tätig war), kümmerte sich Viktor Frankl um die Psychohygiene der Lagerinsassen. Das Referat leitete er bis zu seiner Deportation ins Konzentrationslager Auschwitz im Herbst 1944.
Im Rahmen der „Krankenbetreuung“ wurden verschiedenen Möglichkeiten genutzt, so beispielsweise Psychotherapie und Vorträge. Ältere Menschen, deren Angehörige ins Ausland geflohen waren, wurden in Fremdsprachen unterrichtet. Das Bestreben, dadurch Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihren Angehörigen und damit einhergehend auch eine Lebensaufgabe zu geben, hatte laut Viktor Frankl therapeutischen und psychohygienischen Wert. Täglich gab es sogar neue Witze, um die Menschen wenigstens etwas aufzuheitern.
Psychohygiene: psychischer Gesundheitsschutz
Die Lehre der Psychohygiene beschäftigt sich mit der Frage, was Menschen in die Lage versetzen kann, mit den Problemen ihres Lebens fertig zu werden – ungeachtet dessen, was ihnen im Leben begegnet. Die praktische Psychohygiene umfasst alle Maßnahmen, die dem Schutz und dem Erhalt der psychischen Gesundheit dienen.
Psychohygiene umfasst den wesentlichen Aspekt der Prävention. Viktor Frankl drückte es so aus: „Dem Nihilismus eine klare Absage zu erteilen, die unzerstörbare Würde des Menschen, den Aufgabencharakter und unabdingbaren Sinn des Lebens aufzuzeigen, ist eine präventive Maßnahme für die Psychohygiene unserer Gesellschaft.“ Nihilismus bezeichnet die philosophische Anschauung von der Nichtigkeit und Sinnlosigkeit alles Bestehenden. Wenn der Mensch für sich und sein Leben einen Sinn erkennt, ist dem Nihilismus der Boden entzogen.
Vor dem Hintergrund seiner leidvollen Erlebnisse und Erfahrungen sprach sich Viktor Frankl dafür aus, sich präventiv mit Lebensfragen bewusst auseinander zu setzen und betonte die psychohygienische Bedeutung dieser Aufgabe. Er konnte zeigen, wie sich der Mensch durch einen sinnorientierten Lebensstil, eine sinnorientierte Lebensgestaltung, vor seelischen Krisen schützen kann.
Heute ist der Begriff „Psychohygiene“ nicht mehr gebräuchlich. Gleichwohl ist das Konzept nach wie vor aktuell. Mittlerweile werden eher die Begriffe „Salutogenese“ oder „Resilienz“ verwendet.
Menschen brauchen einen Lebenssinn
Die Frage des „Warum“ beschäftigte Viktor Frankl auch in anderem Zusammenhang. Im Jahr 1941 begann er die Arbeit an seinem Buch „Ärztliche Seelsorge“, das die Grundlagen seines psychotherapeutischen Systems darlegt. Das Manuskript nahm er 1942 in das Ghetto Theresienstadt mit. Bei der späteren Deportation in das Konzentrationslager Auschwitz (1944) versuchte Viktor Frankl, das druckreife Manuskript eingenäht in seinen Mantel in das Konzentrationslager zu schmuggeln. Der Mantel mit dem Manuskript wurde ihm jedoch abgenommen und so ging es verloren. Seine Reaktion darauf beschrieb er so: „In Ausschwitz war ich um das druckreife Manuskript meines ersten Buches gekommen, nachdem ich gehofft hatte, wenigstens dieses ‚Geisteskind‘ würde mich überleben. Und das war es: Ein Warum zu überleben! Nun galt es, das Manuskript zu rekonstruieren. Ich stürzte mich in meine Arbeit. Es wurde meine Habilitationsschrift.“ Viktor Frankl hatte seine Aufgabe erkannt.
Nicht erst seine eigenen Erfahrungen in Konzentrationslagern – aber diese wohl besonders eindrücklich – führten Viktor Frankl zu der Überzeugung, dass Menschen einen Willen zum Sinn in sich tragen und dass sie in ihrem Leben und für ihr Leben einen Lebenssinn benötigen. Gegründet auf den Lebenssinn kann daran gegangen werden, die individuelle Lebensaufgabe zu entdecken. Viktor Frankl formulierte es so: „Wir erfinden unseren Auftrag in dieser Welt nicht, sondern wir ent-decken ihn. Er liegt in uns und wartet darauf, verwirklicht zu werden. Jede/r hat eine persönliche Berufung oder Mission im Leben; jede/r muss einer bestimmten Aufgabe nachkommen, die auf Erfüllung drängt. Der Auftrag jedes Menschen ist genauso einzigartig wie die Chance, ihn zu erfüllen.“
„Was soll ich jetzt daheim anfangen?“, „Wie soll es nach dem Verlust meiner Frau weitergehen?“, „Soll der Alltagstrott wirklich alles sein?“ … – Fragen in herausfordernden Lebenssituationen führen unweigerlich zur Frage nach dem Lebenssinn. Auch wenn vielleicht Tränen fließen – es lohnt sich, die Frage zu stellen. Man gibt sich selbst die Chance, zu einer für sich klaren Antwort zu gelangen, die individuelle Lebensaufgabe zu entdecken und seinem Leben eine neue Richtung zu geben.
* Sie können nach Text suchen, der in Zitaten vorkommt (Beispiele: „Glück“, „hoff“)