Die infantile Liebe folgt dem Prinzip: ‚Ich liebe, weil ich geliebt …Lesezeit: 8 Min.

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„Die infantile Liebe folgt dem Prinzip: ‚Ich liebe, weil ich geliebt werde.‘ Die reife Liebe folgt dem Prinzip: ‚Ich werde geliebt, weil ich liebe.‘ Die unreife Liebe sagt: ‚Ich liebe dich, weil ich dich brauche.‘ Die reife Liebe sagt: ‚Ich brauche dich, weil ich dich liebe.‘“

Erich Fromm
Die infantile Liebe folgt dem Prinzip, E. Fromm - Gestaltung: privat
Gestaltung: privat

Erich Fromm (1900-1980) war ein deutsch-US-amerikanischer Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe. Er versuchte, psychologisches und soziologisches Denken zu verbinden. Für Fromm ist die Freiheit zentrales Kriterium der menschlichen Natur.

Sein Hauptinteresse galt der Erforschung der psychischen Voraussetzungen für ein gelingendes gesellschaftliches Zusammenleben. Seine Beiträge zur Psychoanalyse, zur Religionspsychologie und zur Gesellschaftskritik haben ihn als einflussreichen Denker des 20. Jahrhunderts etabliert.

Kleine Geschichte einer gescheiterten Beziehung

Lisa (*) und Dirk (*) lebten zusammen in Dirks Wohnung in einer Beziehung. Dirk hatte längere Zeit kein regelmäßiges Einkommen. Lisa übernahm von sich aus und freiwillig einen erheblichen Teil der laufenden Kosten. Und sie zeigte sich auch ansonsten recht großzügig. Gemeinsame Unternehmungen finanzierte sie meist aus ihrer Tasche. Dirk ließ es sich also auf Lisas Kosten gutgehen.

Schließlich gelang es Dirk, ein regelmäßiges Einkommen zu erzielen. Bald gab er Lisa zu verstehen, dass er die Beziehung beenden wolle und gab ihr den sprichwörtlichen Laufpass. Für Lisa kam dies sehr überraschend. Verständlicherweise war sie sehr davon enttäuscht, wie Dirk gehandelt und dass er sie so einfach abserviert hatte.

Von außen betrachtet stellt sich die Frage, was die Beziehung eigentlich zusammenhielt. War es ein Verliebtsein? War es die Möglichkeit, Bedürfnisse zu befriedigen? Oder war es die Möglichkeit, dem Alleinsein zu entgehen? Oder …? Eine reife Liebe war es jedenfalls sicher nicht, was die beiden miteinander verband.

Es drängt sich die Vermutung auf, dass Dirk sich unterschwellig von so etwas wie „Ich liebe dich, weil ich dich brauche“ leiten ließ. Wenn sich Lisa eine reife Liebe wünschte, sie aber nicht erleben konnte, bedeutet dies auch, dass sie nicht wirklich auf sich und ihre Bedürfnisse achtete. Sie nahm sich gewissermaßen selbst nicht wahr und auch nicht ernst. Und in der Konsequenz übernahm sie auch keine Verantwortung für sich.

So blieb die Beziehung ziemlich an der Oberfläche. Sehr wahrscheinlich wäre die Beziehung irgendwann ohnehin zerbrochen, wenn auch aus einem anderen Grund. Wenn der eine nur überwiegend konsumiert, der andere nur überwiegend gibt, entsteht eine dauerhafte Unwucht. Es ist keine Beziehung auf Augenhöhe. Eine solche Beziehung wird auf Dauer nicht die geringste Chance haben, ohne dass einer der Partner in der Beziehung dauerhaft leidet, es sei denn, ein Partner lässt sich bewusst darauf ein.

Konsumieren oder investieren?

Für Erich Fromm ist Liebe eine Kunst, die man erlernen muss. Und wenn man etwas erlernen muss, beispielsweise ein Handwerk, das Musizieren mit einem Instrument, oder das Behandeln von Erkrankungen als Arzt, muss zwingend investiert werden. Zumindest müssen Zeit und Aufmerksamkeit investiert werden. In der Konsequenz ist Liebe sinnentsprechend nichts Passives und hat mit Konsumieren nichts zu tun.

Das Erlernen der Liebe ist und bleibt eine stetige Herausforderung. Der Paartherapeut Roland Weber unterscheidet fünf Phasen einer Beziehung. Die erste Phase, die Verliebtheitsphase, dauert etwa 3 bis 18 Monate. Es ist die Zeit, in der man gewissermaßen blind vor Liebe ist. Die Partnerin bzw. der Partner wird durch die sprichwörtliche rosarote Brille gesehen. Die Schattenseiten des Anderen werden mehr oder weniger ausgeblendet und nicht wahrgenommen.

In den weiteren Beziehungsphasen einer Partnerschaft werden die Schattenseiten des Anderen bewusst. Enttäuschungen im Sinne von Ent-täuschungen werden erlebt und durchlebt, d. h. Täuschungen werden aufgedeckt. Die Partnerin bzw. der Partner wird ohne Maske erlebt, und Masken würden auch nichts mehr nützen. Die Stärken und Schwächen des Anderen lernt man kennen, letztere vielleicht auch schmerzhaft. Gleichzeitig erwächst gegenseitige Akzeptanz. Auch Abgrenzung erfolgt und eigene Räume außerhalb des „Wir“ werden wieder besetzt.

Während einer Beziehung werden mancherlei Höhen und Tiefen erlebt. Viele Dinge geschehen, die in der Beziehung ausgehalten werden. Sie treiben nicht auseinander, sondern schweißen zusammen – oder besser ausgedrückt – die Partner lassen sich nicht auseinandertreiben. Sie arbeiten an ihrer Beziehung, weil sie einander wichtig sind. Und dann gilt auch das „Ich brauche dich, weil ich dich liebe“.

Für die Partner ergibt sich dann auch Raum, gemeinsam neue Ziele zu finden, neue Vorhaben zu beginnen. Der Beziehung wird vor dem Hintergrund gewachsener Vertrautheit ein gemeinsamer tieferer Sinn geschenkt.

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Liebe kann nichts Passives sein

Die Liebe muss in einem selbst entwickelt werden, damit eine reife Liebe entstehen kann. Auch aus diesem Blickwinkel ist Liebe nichts Passives, sondern sie wird aktiv. Wenn es denn eine reife Liebe sein oder werden soll, die Menschen miteinander verbindet, kann die Frage nicht lauten: „Was kann der andere für mich tun und sein?“. Sie lautet vielmehr: „Was kann ich für den anderen tun und sein?“

Eine unreife Liebe trägt demgegenüber immer den Gedanken eines Handels in sich. Bei diesem Handel werden ständig Plus und Minus gegeneinander abgewogen und aufgerechnet. Er benötigt Tauschobjekte, damit für Leistungen Gegenleistungen erbracht werden können. Emma Goldman brachte es so auf den Punkt: „Wenn man Liebe nicht bedingungslos geben und nehmen kann, ist es keine Liebe, sondern ein Handel, in dem ständig Plus und Minus gegeneinander abgewogen werden.“. Insofern hat eine reife Liebe als Gegenpol auch den Charakter einer bedingungslosen Liebe.

Wie gelangt man von der infantilen zur reifen Liebe?

Aus dem Blickwinkel der menschlichen Entwicklung beginnt diese, wenn sie normal verläuft, mit der Erfahrung der Mutterliebe. Ein Baby muss keine Leistung erbringen, um sich die Liebe der Mutter zu verdienen. Dazu wäre das Baby auch überhaupt nicht in der Lage. Es wird bedingungslos geliebt und es erfährt diese Liebe im Umgang der Mutter mit ihm. Die Mutter streichelt es zärtlich, wiegt es in den Armen. Wenn das Baby weint, nimmt es auf den Arm, um es zu trösten.

Im Lauf seiner weiteren (kindlichen) Entwicklung macht das Kind die Erfahrung, dass es nicht nur passiv Liebe empfängt, sondern dass es auch selbst etwas geben kann. Das Kind malt beispielsweise ein Bild oder es pflückt Blumen und macht der Mutter oder dem Vater damit ein kleines Geschenk. Dieses Geschenk kommt von Herzen und erfreut nicht nur Mutter oder Vater, sondern auch das Kind selbst.

Die Bedürfnisse des Anderen sehen

Der Blick des Kindes und später Jugendlichen weitet sich im Entwicklungsverlauf immer mehr. Nicht mehr nur die eigenen Bedürfnisse werden gesehen, sondern auch die Bedürfnisse des Anderen. Während in der frühen Entwicklungsphase der Andere primär ein Mittel zur Bedürfnisbefriedigung war, werden die Bedürfnisse des Anderen in den weiteren Entwicklungsjahren immer wichtiger.

Die Bedürfnisse des Anderen werden ebenso wichtig wie die eigenen und, wie Erich Fromm es beschreibt, tatsächlich noch wichtiger als diese. „Geben ist befriedigender, freudvoller geworden als Geliebtwerden; Lieben ist wichtiger geworden als Geliebtwerden. Dadurch, dass der junge Mensch liebt, ist er aus der Gefängniszelle seines Alleinseins und seiner Isolierung herausgelangt, die durch seinen Narzissmus und seine Ichbezogenheit bedingt waren. Er erlebt ein neues Gefühl der Einheit, des Teilens und des Einsseins. Was noch wichtiger ist, er spürt in sich das Vermögen, Liebe durch Lieben zu wecken und nicht mehr davon abhängig zu sein, geliebt zu werden und aus diesem Grund klein, hilflos und krank – oder ‚brav‘ bleiben zu müssen.“ (Erich Fromm, Die Kunst des Liebens, dtv).

Mit sich selbst eins werden

Die Entwicklung hin zur reifen Liebe führt nicht nur über die Erfahrung, dass Lieben wichtiger geworden ist als Geliebtwerden. Sie führt auch über die Erfahrung einer Hinwendung zu sich selbst. Man muss sich im Lauf seiner Entwicklung selbst finden, mit sich selbst eins werden. Wer vor sich selbst davonläuft, vor sich selbst auf der Flucht ist, wird keine reife Liebe erleben können. Je weniger man mit sich selbst eins ist, desto mehr wird man vom Anderen unausgesprochen eine Art Heilung erhoffen. Der Andere möge gewissermaßen das heilen, an das man sich selbst nicht heranwagen möchte.

Wenn man sich selbst gefunden hat und aus sich heraus lebt, entwickelt man Stärke und Lebendigkeit. Man hat ein gesundes Selbstwertgefühl, gegründet auf Selbstwertschätzung. Deshalb braucht man den Anderen nicht, um seinen „Wert“ zu bestätigen oder um Anerkennung zu geben. Und man sucht im Anderen auch keine Heilung für sich selbst.

Wenn zwei Menschen sich selbst gefunden haben, können sie sich in einer Beziehung auf Augenhöhe verbinden. Die reife Liebe hat somit nicht zur Folge, dass die Partner ihre Individualität und Integrität aufgeben. Jeder behält seine Individualität und Integrität und kann sie auch bewahren. Keiner ist vom Anderen abhängig.

Gutes und Sinnvolles tun – ganz praktisch

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Was hätte geschehen können?

Wie hätte sich die Beziehung entwickelt, wenn Lisa nicht nur Dirks Bedürfnisse gesehen hätte, sondern auch mit sich selbst eins gewesen wäre? Dann hätte sie positiv über sich selbst gedacht, hätte sich selbst wertgeschätzt. Sie hätte Stärke und Lebendigkeit entwickelt, völlig unabhängig von der Beziehung mit Dirk.

Lisa hätte auf sich und ihre Bedürfnisse geachtet. Sicherlich wurden einige ihrer Bedürfnisse erfüllt, beispielsweise das Bedürfnis, nicht alleine zu sein. Aber andere Bedürfnisse blieben auf der Strecke, beispielsweise das Bedürfnis, um ihrer selbst willen geliebt zu werden.

Die Frage stellt sich auch, ob sich Lisa – wenn sie sich als selbstbewusste Frau wahrgenommen hätte – überhaupt auf die Beziehung mit Dirk eingelassen hätte. Wahrscheinlich kaum. Aber wenn sie es getan hätte, dann hätte sie bald erkannt, dass es der Beziehung an Tiefe fehlt. Sie hätte auch bald erkannt, dass es keine Beziehung auf Augenhöhe ist. Und sie hätte die Beziehung für sich nicht als befriedigend und glücklich empfunden. Ihr wäre bewusst geworden, dass Dirk zu einer reifen Liebe nicht fähig ist, denn er ist mit sich selbst nicht eins. Dirk brauchte sie, aber er liebte sie nicht in der Tiefe seines Herzens.

Wahrscheinlich hätte Lisa die Beziehung schon im frühen Stadium von sich aus beendet. Sie hätte sich eine Enttäuschung und den Schmerz einer gescheiterten Beziehung erspart.

* Name(n) geändert

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Ich bin Dieter Jenz, Begleiter, Berater und Coach mit Leidenschaft. Über viele Jahre hinweg habe ich einen reichen Schatz an Kompetenz und Erfahrung erworben. Meine Themen sind die "4L": Lebensaufgabe, Lebensplanung, Lebensnavigation und Lebensqualität.