Die Liebe will nichts von dem anderen, sie will alles für …Lesezeit: 9 Min.

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„Die Liebe will nichts von dem anderen, sie will alles für den anderen.“

Dietrich Bonhoeffer
Die Liebe will nichts, D. Bonhoeffer - Gestaltung: privat
Gestaltung: privat

Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) war ein deutscher Theologe, profilierter Vertreter der Bekennenden Kirche, einer Oppositionsbewegung evangelischer Christen, und am Widerstand gegen den Nationalsozialismus beteiligt.

Ist es wirklich gegenseitige Liebe?

Carola (*) lernte kürzlich Alexander (*) kennen. Er ist ihr sofort sympathisch und sie denkt, dass sich eine engere Beziehung entwickeln könnte. Für sie ist es nach einer enttäuschten Liebe wieder ein Herantasten an eine Beziehung. Sie treffen sich einige Male und genießen die Zeit miteinander. Es sind unbeschwerte Stunden.

Carola nimmt sehr bald wahr, dass Alexander sexuelle Wünsche hat. Soweit ist sie jedoch noch nicht. Für sie kommt das noch zu früh. Sie möchte der neuen Beziehung Zeit zur Entwicklung geben. Außerdem möchte sie nicht erneut enttäuscht werden. Alexander drängt jedoch immer stärker und droht mehr oder weniger unverhohlen mit dem Ende der noch jungen Beziehung, wenn sie auf seine Wünsche nicht eingeht.

Wie soll sich Carola verhalten? Wenn sie nachgibt, verletzt sie ihre Integrität und handelt gegen ihre eigenen persönlichen Werte. Dann lässt sie zu, dass ihre Grenzen verletzt und ihre Selbstachtung geschädigt werden. Gibt sie hingegen nicht nach, könnte es sein, dass Alexander die Beziehung beendet.

Hinsichtlich der Sexualität in einer Beziehung gibt es bei Carola eine Grenze. Die Beziehung soll sich erst verfestigt haben, bevor sie sich auf Sex einlässt. Sie möchte kein sexuelles Abenteuer und schon gleich gar nicht eine Trophäe in einer möglichen längeren Liste von Alexanders Eroberungen sein. Schließlich kann sie zu dem Zeitpunkt – die Beziehung ist noch relativ frisch – noch nicht sicher wissen, ob Alexander parallel zu ihrer Beziehung auch noch mit anderen Frauen Beziehungen unterhält.

Angenommen, Carola würde Alexanders Drängen nachgeben. Was würde dies für sie bedeuten? Ihre Selbstachtung würde geschädigt, denn sie missachtet ihre persönlichen Werte und ignoriert ihre Grenze. Dadurch würde sie sich selbst verleugnen. Und ihr Selbstwertgefühl, das von der Selbstachtung nicht zu trennen ist, würde leiden. Es würde umso mehr leiden, wenn sie nachgeben und hinterher wahrnehmen würde, dass es Alexander eigentlich doch nur um ihren Körper ging.

Was kann Carola aus Alexanders Verhalten „lesen“?

Alexander gibt ungewollt viel über sich preis: Er möchte viel lieber nehmen als geben. Geben würde Zeit geben bedeuten, würde bedeuten, nicht zu drängen. Geben würde bedeuten, dem Anderen Freiraum zu lassen und diesen zu respektieren. Und Geben würde bedeuten, dem Anderen Sicherheit zu geben.

Alexander stellt durch seine Drohung, die Beziehung zu beenden, falls sich Carola seinem Wunsch nicht fügt, eine Bedingung. Ist es in der Konsequenz für ihn eher eine Art Handel, eine Art Tauschgeschäft – Sex gegen Beziehung? Emma Goldman, Anarchistin und Friedensaktivistin, und selbst erfahren in unglücklichen Liebesbeziehungen, brachte es auf den Punkt: „Wenn man Liebe nicht bedingungslos geben und nehmen kann, ist es keine Liebe, sondern ein Handel, in dem ständig Plus und Minus gegeneinander abgewogen werden.“.

Wie würde sich gebende Liebe anfühlen?

Angenommen, Alexander würde nichts von Carola, aber alles für Carola wollen. Wie würde sie dies in Alexanders Verhalten zeigen? Und wie würde es sich für Carola anfühlen?

Alexander würde sehr darauf achten, wie er zu Carolas Glücklichsein in der Beziehung beitragen kann. Er würde nicht unausgesprochen erwarten, dass Carola für sein Wohl und seine gute Laune verantwortlich ist. Und er würde Carola so akzeptieren, wie sie ist. Seine Liebe würde der real erlebbaren Carola mit allen ihren Stärken, Schwächen, Makeln und Besonderheiten gelten, nicht einem imaginären Idealbild. Bei alledem würde er Carola Zeit geben, bis sie sich sicher ist.

In seinem Buch „Wer lieben kann, ist glücklich: Über die Liebe“ schrieb der Schriftsteller, Dichter und Maler Hermann Hesse: „Liebe will nicht haben; sie will nur lieben.“.  Mit wenigen Worten drückte er aus, was Liebe möchte.

Aus Carolas Sicht wäre Alexanders gebende Liebe mit allen Sinnen „anfühlbar“. Sie würde sich von ihm wertgeschätzt, respektiert und auf Augenhöhe behandelt fühlen. Sie wäre sicher, für ihn nichts „leisten“ zu müssen, denn er liebt sie ja so, wie sie ist. Und sie nähme wahr, dass er Zeit für sie hat und gerne Zeit mit ihr verbringt, denn in ihrer Gegenwart fühlt er sich wohl. Und sie würde sich bei ihm sicher und geborgen fühlen.

Wenn sie aus ihrer Sicht vielleicht ein paar Kilo zu viel auf die Waage bringt, wenn ihre Nase nicht dem Idealbild entspricht, wenn …, dann ist es Alexander gleichgültig. Schließlich liebt er nicht in erster Linie Carolas Körper, sondern er liebt Carola ganzheitlich. Für Carola wäre fühlbar, dass es Alexander um sie geht und nicht um eine Art gestaltbare „Puppe“.

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Wie weit geht das „alles für den Anderen wollen“?

Wenn Liebe alles für den Anderen will, würde dies für Carola in der Konsequenz nicht doch bedeuten, Alexanders Drängen nachzugeben? Ist dieses „alles für den Anderen wollen“ als absolut zu verstehen?

Würde dies bedeuten, die eigenen Grenzen um des Anderen willen zu missachten und damit gewissermaßen grenzenlos zu werden? Carola würde sich in einem Dilemma befinden. Entweder sie gibt Alexanders Drängen aus Liebe zu ihm nach und will auf diese Weise alles für den Anderen. Dann verleugnet sie sich jedoch selbst und fügt ihrer Seele Schaden zu. Oder sie gibt nicht nach und will in der Konsequenz nicht alles für den Anderen. Dann sorgt sie jedoch gut für sich selbst und bewahrt ihre Grenzen und ihre Integrität.

Auch in anderen Lebensbereichen können Dilemmasituationen entstehen. Da ist vielleicht die Tochter, deren Mutter schwerkrank und pflegebedürftig wurde. Die Mutter erwartet, dass ihre Tochter sie pflegt. Die Tochter möchte auch ihrerseits die Mutter pflegen, denn sie liebt die Mutter. Aber wird sie es schaffen können, ohne sich selbst zu verausgaben und irgendwann zusammenzubrechen? Wie weit kann das „alles für den Anderen wollen“ gehen? Muss die Tochter um der Liebe zur Mutter willen ihre Belastungsgrenzen missachten – mit der möglichen Folge, dass sie selbst seelisch erkrankt?

Da ist vielleicht die Arbeitskollegin. Sie beging einen schwerwiegenden und irreparablen Fehler, durch den das Unternehmen einen wichtigen Kunden verlor. Die Kollegin konstruiert eine Begründung, die sie entlasten würde, aber eben nicht den Tatsachen entspricht. Sie bittet darum, gegenüber dem Vorgesetzten ihre Darstellung zu bestätigen. Mit dieser bestätigten Lüge, so hofft sie, würde sie ihre weitere Karriere nicht gefährden. Man mag die Kollegin und weiß auch, dass sie auf den Arbeitsplatz angewiesen ist. Doch bedeutet das „alles für den Anderen wollen“, dass die Nächstenliebe für das Wohl des Anderen Wahrheit und Klarheit zurückstellen muss?

Führt konsequent gelebte Liebe zu Überforderung?

Für Bonhoeffer mit seinem Hintergrund als Theologe lag nahe, sich an Jesus Christus als Inbegriff der Liebe Gottes zu orientieren. Jesus Christus, der in seiner bedingungslosen Liebe zu den Menschen keine Gegenleistung verlangte, machte nach biblischer Überlieferung die Liebe Gottes anschaulich und gewissermaßen greifbar. Im Neuen Testament heißt es beispielsweise: „Liebe ist geduldig, Liebe ist freundlich. Sie kennt keinen Neid, sie spielt sich nicht auf, sie ist nicht eingebildet. Sie verhält sich nicht taktlos, sie sucht nicht den eigenen Vorteil, sie verliert nicht die Beherrschung, sie trägt keinem etwas nach.“ (1. Kor. 13, 4-5).

Insofern ist Bonhoeffers Zitat eine Verlängerung dessen, was schon in der Bibel zu lesen ist. Und was das in der Praxis bedeuten kann, lässt sich leicht erschließen: Liebe respektiert den anderen, drängt nicht, setzt nicht unter Druck, setzt kein Ultimatum … Doch auch Jesus Christus setzte Grenzen und ließ nicht alles mit sich machen.

Wenn man etwas für andere Menschen tut, sich für sie engagiert, damit es ihnen wenigstens etwas besser geht, wirkt sich dies positiv auf das Selbstbewusstsein aus. Man erlebt Dankbarkeit und nimmt Anerkennung wahr. Oft werden dafür auch persönliche Einschränkungen in Kauf genommen. Doch wenn man sich selbst in Uneigennützigkeit und Selbstlosigkeit verliert, gewissermaßen grenzenlos wird, kann man auch in eine Abhängigkeitsbeziehung von der Bestätigung des bzw. der Mitmenschen geraten. Man giert nach Anerkennung und Bestätigung durch andere Menschen.

Ist es dann nicht eher die grenzenlose als die bedingungslose Liebe, die zu einer Überforderung führen kann? Die bedingungslose Liebe nimmt den Mitmenschen so an, wie er ist, mit allen seinen Eigenheiten, Stärken und Schwächen. Sie wird praktisch, indem sie das Wohl des Mitmenschen fördert, aber die eigenen Grenzen nicht missachtet und sich auf diese Weise selbst vor Überforderung schützt.

Die grenzenlose Liebe kann sich sogar als „neurotische Selbstlosigkeit“ erweisen, wie es der Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe Erich Fromm in seinem Klassiker „Die Kunst des Liebens“ beschrieb: „Der solcherart Selbstlose »will nichts für sich selbst«; er »lebt nur für andere«; er ist stolz darauf, dass er sich selbst nicht wichtig nimmt.“. Dieses „für andere leben“ ist dann eine Fassade der Selbstlosigkeit, hinter der sich „eine subtile, aber deshalb nicht weniger intensive Ichbezogenheit verbirgt.“. Trotz seiner Selbstlosigkeit fühlt er sich unglücklich.

Letztlich ist es die grenzenlose Liebe, die überfordert. Sie überfordert den dergestalt „Liebenden“ und möglicherweise auch den bzw. die dergestalt „Geliebten“.

Gutes und Sinnvolles tun – ganz praktisch

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Wie kann man eine gesunde Balance finden?

Wie kann man es schaffen, eine gute Balance zu finden? Einerseits möchte und muss man sich selbst vor Überforderung schützen. Andererseits möchte man „Liebe will alles für den Anderen“ mit Leben erfüllen.

Ist es nicht das ausgewogene Maß an Selbstliebe, das man für eine gesunde Balance braucht? Wenn man sich selbst liebt und wertschätzt, ist man nicht von der Anerkennung und Bestätigung anderer abhängig. Natürlich freut man sich darüber, aber man braucht diese Art von „Doping“ nicht unbedingt.

Die Selbstliebe erinnert einen auch immer wieder an die eigenen Grenzen. Manchmal wäre es sogar der Weg des geringsten Widerstands, wenn man die eigenen Grenzen missachten würde. Aber wenn man auf seine eigenen Grenzen schaut, erkennt man auch besser, ob man sich möglicherweise überfordert. Grenzen setzen und sich abgrenzen ist dann etwas Positives, denn man schützt nicht nur sich selbst, sondern auch Mitmenschen vor möglicher und wie auch immer ausgeprägter „neurotischer Selbstlosigkeit“.

Und Carola? Wenn sie sich selbst liebt und wertschätzt, strahlt sie etwas aus. Sie wird Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit ausstrahlen. Und für Alexander wird instinktiv erkennbar, wo ihre Grenzen liegen.

* Name(n) geändert

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Ich bin Dieter Jenz, Begleiter, Berater und Coach mit Leidenschaft. Über viele Jahre hinweg habe ich einen reichen Schatz an Kompetenz und Erfahrung erworben. Meine Themen sind die "4L": Lebensaufgabe, Lebensplanung, Lebensnavigation und Lebensqualität.