„Nicht der ist reich, der viel hat, sondern der, welcher viel gibt.“
Erich Fromm
Erich Fromm (1900-1980) war ein deutsch-US-amerikanischer Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe. Er versuchte, psychologisches und soziologisches Denken zu verbinden. Für Fromm ist die Freiheit zentrales Kriterium der menschlichen Natur.
Sein Hauptinteresse galt der Erforschung der psychischen Voraussetzungen für ein gelingendes gesellschaftliches Zusammenleben. Seine Beiträge zur Psychoanalyse, zur Religionspsychologie und zur Gesellschaftskritik haben ihn als einflussreichen Denker des 20. Jahrhunderts etabliert.
Wer ist wirklich reich?
Wer würde behaupten, dass beispielsweise Mutter Teresa (1910-1997), eine indische Ordensschwester, viel hatte und in materieller Hinsicht reich war? Wohl niemand! Als Ordensschwester besaß sie nur sehr wenig Geld, fast nichts..
Mutter Teresa wurde durch ihre wohltätige Arbeit in Indien weltweit bekannt. Über Jahrzehnte hinweg kümmerte sie sich mit der Gemeinschaft der Missionarinnen der Nächstenliebe, von ihr gegründet, um Sterbende, Waisen, Obdachlose und Kranke. Für dieses Engagement erhielt sie 1979 den Friedensnobelpreis.
Im Grunde gab sich Mutter Teresa selbst und konnte mit ihrer praktizierten Nächstenliebe sehr viel Gutes bewirken. Schon zu ihren Lebzeiten nannte man sie einen „Engel der Armen“ oder einen „Engel der Gosse“. Könnte man nicht sogar sagen, dass Mutter Teresa im Geben reich war und in dieser Hinsicht sogar zu den reichsten Menschen der Erde gehörte?
Mutter Teresa ist nur ein – wenn auch sehr prominentes – Beispiel von vielen. Rund um den Erdball gibt es unzählige Menschen, die zwar materiell arm, aber dennoch überaus reich sind. Manche besitzen materiell gesehen viel und geben von ihrem Überfluss. Manche besitzen, wie Mutter Teresa, nur wenig oder so gut wie nichts, aber können trotzdem viel geben. Gleichgültig, ob jemand materiell reich oder arm ist – jeder kann etwas von sich selbst geben.
Wer ist materiell reich und wer ist der reichste Mensch? Dafür gibt es Ranglisten, die in den Medien jedes Jahr aufs Neue für große Aufmerksamkeit sorgen. Wer ist im immateriellen Geben reich, im Geben von sich selbst? Diese Frage bleibt in den Medien unbeantwortet.
Materieller Reichtum ist in der Konsequenz nicht die einzige Messgröße für den Reichtum eines Menschen – und kann es auch nicht sein. Angenommen, jemand ist materiell reich. Ständig ist er darauf bedacht, seinen Reichtum zu vergrößern. Und ständig lebt er in Sorge, dass sein materieller Reichtum geschmälert werden könnte. Könnte es sein, dass ein solcher Mensch im Ganzen gesehen in Wirklichkeit überhaupt nicht reich ist, dass zu wirklichem Reichtum etwas fehlt? Erich Fromm drückte es durchaus etwas drastisch aus: „Der Hortende, der ständig Angst hat, etwas zu verlieren, ist psychologisch gesehen ein Habenichts, ganz gleich, wie viel er besitzt. Wer dagegen die Fähigkeit hat, anderen etwas von sich zu geben, ist reich.“.
Wie kann man sein persönliches „Geber-Profil“ herausfinden?
Angenommen, man folgt Erich Fromms Argumentation, dass nicht der reich ist, der viel hat, sondern der, welcher viel gibt. Dann liegt folgende Frage nahe: Wie kann man im Geben reich sein und dies ausdrücken?
Wenn man materiell reich werden möchte, stellt sich unwillkürlich die Frage nach dem Startkapital. Wie viel Geld benötigt man beispielsweise, um ein Unternehmen zu gründen und die erste Zeit zu überstehen, bis das Unternehmen „lebensfähig“ ist, also über eine solide Kunden- und Auftragsbasis verfügt und ausreichende Erträge erwirtschaften kann? Wie viel seiner Zeit muss man investieren? Welche Fähigkeiten und Kompetenzen benötigt man, um erfolgreich sein zu können?
Wenn man im Geben reich sein oder werden möchte, stellt sich die Frage in ähnlicher Weise. Möchte man sein Geben durch finanzielle Mittel ausdrücken, benötigt man natürlich ein ausreichendes Kapital, denn durch das Geben sinkt der Kontostand. Wenn man immer nur abgibt, erreicht der Kontostand irgendwann die Marke Null. Möchte man jedoch von sich selbst geben, spielt der Kontostand eine zu vernachlässigende Rolle. Man ist schon reich und wird es auch bleiben. Wenn man sein persönliches „Geber-Profil“ herausfinden möchte, stellen sich vor allem diese Fragen:
- Was möchte man von sich geben?
- Wem möchte man von sich geben?
- Wie intensiv möchte man sich einsetzen?
- Welche Fähigkeiten und Kompetenzen werden benötigt?
Die Antworten auf diese Fragen werden natürlich auch von den individuellen Lebensumständen bestimmt. Die allermeisten Menschen können sich beispielsweise nicht vollzeitlich im Geben ihrer Zeit engagieren, sondern müssen ein ausreichendes Einkommen erwirtschaften, um für die eigenen Bedürfnisse des Lebens sorgen zu können.
Was möchte man von sich geben?
Wenn man etwas Immaterielles von sich gibt, dann gibt man anderen Menschen vom Kostbarsten, was man besitzt: seinem Leben. Wie Erich Fromm es ausdrückt, besteht dieses Geben aus etwas von dem, was in einem lebendig ist: Freude, Interesse, Verständnis, Wissen, Humor, Traurigkeit usw. Was möchte man von seinem Leben besonders gerne von sich geben?
Wem möchte man von sich geben?
Bei dieser Frage spielen persönliche Neigungen und Sympathien eine Rolle. Es gibt Menschen oder Menschengruppen, die einem besonders nahestehen. Da das Geben aus dem Herzen heraus geschehen will, wird man sich in erster Linie jenen widmen, denen man besonders zugeneigt ist.
Wie intensiv möchte man sich einsetzen?
Die Frage der Intensität ist sehr stark mit dem Faktor Zeit verknüpft, jedoch nicht nur. Das Immaterielle, das man von sich gibt, ist nicht ohne Zeiteinsatz denkbar. Wie wollte man beispielsweise Verständnis zeigen, ohne einem Mitmenschen mit seiner Aufmerksamkeit zugewandt zu sein? Während dieser aktiven Zugewandtheit ist keine andere Aktivität möglich. Für „Multitasking“ besteht kein Raum. Wie viel von seiner Zeit kann man geben?
Welche Fähigkeiten und Kompetenzen werden benötigt?
Welche besonderen Fähigkeiten und Kompetenzen werden wohl benötigt, wenn man beispielsweise einem Mitmenschen etwas von seinem Interesse geben möchte? Sicherlich lässt sich argumentieren, dass man dafür nichts anderes benötigt als ein offenes Herz und Aufmerksamkeit. Will man jedoch beispielsweise etwas von seinem Wissen geben, kann es hilfreich sein, seine Fähigkeiten und Kompetenzen weiterzuentwickeln. Dadurch kann man seinen Reichtum noch vergrößern.
Wie kann sich Reichtum im Geben praktisch äußern?
Was man von sich selbst geben möchte und kann, erschließt sich im Wesentlichen aus der Schnittmenge der Antworten auf die genannten Fragen. Die Ausgestaltung des Gebens von etwas Kostbaren – etwas von sich selbst und etwas von seiner Zeit – geschieht dann ganz individuell.
Man kann beispielsweise für einen Nachbarn eine kleine Besorgung übernehmen und dadurch etwas von seiner Zeit schenken. Oder man kann eine freundliche und humorvolle Bemerkung machen, die beispielsweise an die Kassiererin an der Supermarktkasse gerichtet ist. Oder man kann eine ermutigende E-Mail an jemand schreiben, von dem man weiß, dass er gerade eine neue Arbeitsstelle sucht. Der Phantasie, wie man seine persönlichen Vorlieben und Stärken einbringen kann, sind keine Grenzen gesetzt.
Warum eigentlich ist man durch Geben reich?
Geben ist Ausdruck von Vermögen. Wer nichts hat, kann nichts geben. Wenn man etwas von sich gibt, dann geschieht das Geben zutiefst freiwillig und ist kein Müssen, sondern Können. Geben fordert keine Gegenleistung. Sonst hätte es den Charakter eines Tauschgeschäfts.
In der Konsequenz ist Geben ein Schenken. In seinem Buch-Klassiker „Die Kunst des Liebens“ schrieb Erich Fromm: „Gerade im Akt des Schenkens erlebe ich meine Stärke, meinen Reichtum, meine Macht. Dieses Erlebnis meiner gesteigerten Vitalität und Potenz erfüllt mich mit Freude. Ich erlebe mich selbst als überströmend, hergebend, lebendig und voll Freude.“.
Durch das Geben bekommt man etwas zurück. Das Geben erweckt auch im Mitmenschen etwas, das wieder zurückstrahlt. Der Beschenkte wird selbst zum Geber. So berichten beispielsweise auffallend viele Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, dass sie sich nicht nur als einseitig Gebende fühlen. Sie empfinden, etwas zurück zu bekommen, können oft jedoch nicht genau benennen, was sie selbst empfangen.
Dass man nicht nur etwas von sich selbst geben kann, sondern auch empfängt, vermittelt auch ein Gefühl der Dankbarkeit. Man ist dankbar, dass man überhaupt Schenkender sein kann. Und man ist dankbar, dass man im Geben etwas Sinnstiftendes vollbringt – man tut etwas dafür, sein Leben mit Sinn zu erfüllen. Interessanterweise leiden unter den ehrenamtlich Tätigen sehr viel weniger Menschen unter Depressionen als im Bevölkerungsdurchschnitt.
Kann es ein Zuviel des Gebens geben?
Ist es möglich, dass man sich im Geben von sich selbst irgendwann verausgabt? Dies ist durchaus möglich. Es gibt Menschen, die nur empfangen, jedoch nichts von sich selbst geben wollen. Das eigene Geben kann dann keine Resonanz finden. Die im Akt des Schenkens sich zeigende Stärke, Reichtum und Macht werden zwar erlebt, aber die Freude schwindet und fehlt schließlich ganz. Man fühlt sich gewissermaßen kontinuierlich in Anspruch genommen und ausgesaugt.
Wenn die Freude des Gebens fehlt, kann irgendwann das Geben als ein „geben müssen“ empfunden werden und sogar in eine buchstäbliche Qual umschlagen. Angenommen, das Geben von sich selbst fordert persönliche Überwindung. Ist es dann nicht gerechtfertigt, seinen Reichtum anders einzusetzen und einem oder mehreren anderen Menschen etwas von sich zu geben?
Das Geben von sich selbst muss stets freiwillig geschehen können. Wenn man andere bestimmen lässt, wie viel man von sich selbst zu geben hat, gibt man Macht über sich ab. Man muss selbst die Entscheidungshoheit behalten, wann etwas für einen selbst zu viel ist. Sich abzugrenzen und „Nein“ zu sagen ist kein Zeichen von Egoismus, sondern ein Zeichen gesunder Selbstfürsorge.
Das Geben hat positive Konsequenzen
Was die Zeit anbelangt, ist der Reichtum gleichmäßig verteilt. Jeder Mensch hat 24 Stunden am Tag zur Verfügung, in denen man sein Leben gestalten kann. Die meisten Menschen können über ihre Zeit zumindest teilweise selbstbestimmt verfügen. Auch dies ist eine Form von Reichtum. In diesen 24 Stunden kann man etwas von sich selbst geben.
Wenn man gerne etwas von sich gibt, wie viel es letzten Endes auch sein mag, erlebt sich im übertragenen Sinne als reich und auch als glücklich. Und man kann sich durch sein „vom Herzen“ motiviertes Geben auch in den Herzen der Mitmenschen verankern. Albert Schweitzer drückte es so aus: „Das schönste Denkmal, das ein Mensch bekommen kann, steht in den Herzen der Mitmenschen.“
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