„Halte immer an der Gegenwart fest. Jeder Zustand, ja jeder Augenblick ist von unendlichem Wert, denn er ist der Repräsentant einer ganzen Ewigkeit.“
Johann Wolfgang von Goethe
Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) war ein deutscher Dichter, Naturforscher und Politiker. Nicht nur in Deutschland gilt er als einer der bedeutendsten Schöpfer deutschsprachiger Dichtung.
Wenn Lebenstiefe verloren geht
Horst (Name geändert) war intensiv damit beschäftigt, sein eigenes Unternehmen aufzubauen. Eine 40-Stunden-Woche war ihm fremd. Über Jahre hinweg gönnte er sich nur wenig Freizeit. Aber selbst in der wenigen Freizeit dachte er darüber nach, wie er das Unternehmen voranbringen könnte. Er ging davon aus, dass er später, wenn das Unternehmen etabliert wäre, bestimmt mehr Zeit haben würde, die Annehmlichkeiten des Lebens zu genießen. Aber jetzt hatte eben das Unternehmen Vorrang.
Leider lebte Horst nur zum Teil in der Gegenwart. Sein Denken griff oft voraus in die Zukunft. Aus unternehmerischer Sicht war daran nichts verkehrt. Natürlich können und dürfen Unternehmer nicht nur die Gegenwart im Blick haben.
Horst ging Achtsamkeit verloren. Er war nicht nur Unternehmer, sondern auch Familienvater. Seine Frau und seine Kinder verlor er oft aus dem Blick. Das Familienleben flog gewissermaßen an ihm vorbei. Und so verpasste er unheimlich viel, aber nicht nur in seiner Familie. Seine Beziehungen verflachten. Einen wirklichen Freund hatte er nicht. Horst nahm nicht wahr, dass ihm schleichend Lebenstiefe verloren ging. Er war auf Ereignisse fixiert, weniger auf Beziehungen. Er konsumierte statt zu erleben.
Sein Beruf hielt Horst in Atem. Sein Kalkül, erst einmal viel Zeit und Energie in den Aufbau des Unternehmens zu investieren und später mehr Zeit für seine Familie, für sich und auch die angenehmen Dinge des Lebens zu haben, ging nicht auf. Immer gab es viel zu tun. Die Frage nach einem Lebenssinn verdrängte er schnell, wenn sie sich denn stellte. Lebenssinn und achtsames Leben in der Gegenwart miteinander verbinden? Für ihn war das kein Thema.
Dabei blieb es nicht. Horst geriet in eine schwere berufliche und persönliche Krise. Sein Blick auf das Leben veränderte sich. Ihm wurde bewusst, was er in all den Jahren in seinem Leben verloren und versäumt hatte. Für kein Geld der Welt würde er die kostbaren Jahre, in denen seine Kinder aufwuchsen, wieder zurückholen können, um sie nochmals – und diesmal bewusst – erleben zu können. Er steuerte konsequent um.
Was geschähe, wenn man jeden Augenblick bewusst wahrnehmen würde?
Was würde sich im Leben ganz praktisch ändern, wenn man jeden Augenblick als unendlich wertvoll ansehen würde? Sicherlich würde man sich dann bemühen, jeden Augenblick ganz bewusst zu erleben und ihn mit allen Sinnen wahrzunehmen. Doch müsste man nicht differenzieren?
Da gibt es die schönen Augenblicke im Leben, die man in vollen Zügen genießen kann. Aber leider gibt es nicht nur die schönen Augenblicke. Es gibt auch genügend Augenblicke, bei denen man nicht im Entferntesten daran denkt, sie zu genießen. Und wer würde sich nicht wünschen, unangenehme und schmerzhafte Augenblicke, ja Zeiten, nie erleben zu müssen?
Da ist vielleicht der Partner, der einem soeben mit deutlichen Worten klar macht, dass er sich trennen möchte. Oder man sieht gerade, wie die Urne mit der Asche eines geliebten Menschen in die Erde abgesenkt wird. Oder man sitzt vor dem Schreibtisch des Arztes und erfährt gerade eine niederschmetternde Diagnose. Was auch immer es sei: Man durchlebt im Leben auch Zeiten der Hilflosigkeit, der Trauer, des Schmerzes, vielleicht auch der Hoffnungslosigkeit, der Verzweiflung, der Angst.
Vielleicht ist man nicht selbst betroffen. Ein nahestehender Mensch durchlebt eine schmerzvolle Zeit. Aber es lässt einen nicht gleichgültig. Man ist selbst berührt und empfindet Mitleid. Und man kann nachempfinden, welcher seelische Schmerz gerade erlebt wird.
Kann man schmerzvollen Zeiten ausweichen?
Die Frage, ob man schmerzvollen Zeiten ausweichen kann, ist überflüssig. Man kann es nicht. Jeder Mensch erlebt während seines Lebens irgendwann auch dunkle Zeiten. Der Psychiater Carl Gustav Jung drückte es so aus: „Auch das glücklichste Leben ist nicht ohne ein gewisses Maß an Dunkelheit denkbar; und das Wort ‚Glück‘ würde seine Bedeutung verlieren, hätte es nicht seinen Widerpart in der Traurigkeit.“. In der Konsequent kann man sich lediglich damit auseinandersetzen, wie man mit der Gegenwart in schmerzvollen Lebensphasen umgeht – und wie man mit sich selbst umgeht.
Manche Menschen versuchen dennoch, der Gegenwart zu entfliehen, beispielsweise durch Betäubung der Sinne mit Hilfe von Alkohol oder Drogen. Der Schmerz der Gegenwart wird für eine gewisse Zeit verdrängt, solange die Wirkung anhält. Danach muss man sich der Wirklichkeit wieder stellen oder sich erneut in einen Betäubungszustand der Sinne versetzen.
Die andere Möglichkeit besteht darin, die Realität der Gegenwart zu akzeptieren. Sie anzunehmen ist auch eine Form, an der Gegenwart festzuhalten, im Hier und Jetzt zu sein.
Die Gegenwart ist eine Momentaufnahme. Im nächsten Augenblick ist Gegenwart wieder etwas anderes. Dies bedeutet auch, dass der Schmerz der Gegenwart nichts Endgültiges ist. Es kann wieder anders werden.
Was kann geschehen, wenn man an der Gegenwart festhält?
Wenn man der Gegenwart entflieht, nimmt man sich selbst die Möglichkeit, als Persönlichkeit zu wachsen und zu reifen. Man weicht aus und verdrängt, aber kann dadurch nichts gewinnen.
Hält man hingegen an der Gegenwart fest – man hält nicht die Gegenwart fest – gewinnt das Leben an Tiefe. Es zieht nicht einfach an einem vorüber. Man nimmt viel intensiver wahr. Alle Sinne sind beteiligt. Und man schafft sich selbst Raum, um seine Persönlichkeit zu entwickeln.
Selbst eine ungeliebte Arbeit lässt sich leichter ertragen, wenn man an der Gegenwart festhält. Der Fokus liegt dann nicht mehr auf der Arbeit selbst, sondern auf dem Augenblick. Beispielsweise achtet man darauf, was die Hände gerade machen, was man gerade hört, sieht, fühlt usw. Vielleicht ist man sogar etwas erstaunt, wenn man feststellt, dass die Arbeit leichter fällt.
Der achtsame Hobbygärtner
Horst machte sich daran, im Garten einen Himbeerstrauch einzupflanzen. Es war ein schöner Spätsommertag. Am Himmel zogen die Wolken dahin. Hin und wieder zeigte sich die Sonne. Es war angenehm warm und fast windstill.
Den Pflanzort hatte er sich bereits ausgesucht. Behutsam grub er ein Loch, nahm dabei wahr, wie die Schaufel in die vom letzten Regen noch feuchte Erde drang. Er nahm die Bewegungen seiner Hand wahr, welche die Schaufel immer wieder in die Erde führte, Druck auf sie ausübte, um tiefer zu graben, Erde aufnahm und sie auf eine Plane fallen ließ. Er sah, wie der Erdhaufen auf der Plane langsam anwuchs. Immer weiter vergrößerte er das Loch, bis es schließlich groß genug war, um den Wurzelballen aufnehmen zu können und darüber hinaus auch noch etwas Raum ließ.
Als nächstes nahm Horst die Jungpflanze aus dem Kunststoff-Container. Er nahm wahr, dass feine und auch schon etwas stärkere weißliche Wurzeltriebe zu sehen waren. Dann riss er den Wurzelballen mit einer Gartenschere auf. In den Pflanzhinweisen war zu lesen, dass der Wurzelballen relativ brutal aufgerissen werden solle, damit die Wurzeln auch gut in ihre neue Heimat hinauswachsen. Beim Aufreißen löste sich Erde aus dem Wurzelballen und rieselte fast lautlos herunter.
Dann war es so weit. Horst setzte die Jungpflanze in das Loch und prüfte nochmals, ob es auch tief genug war. Schließlich sollte die Pflanze laut Pflanzhinweisen oben etwas mit Erde bedeckt sein. Er holte die Pflanze wieder heraus und füllte mit der Hand wieder etwas Erde in das Pflanzloch. Dies wiederholte er, bis die Pflanze gut ausgerichtet war.
Jetzt konnte Horst die ausgehobene Erde mit der Hand aufnehmen und den Raum zwischen Wurzelballen und dem Rand des Pflanzlochs auffüllen. Anschließend bedeckte er den Wurzelballen noch mit etwas Erde. Schließlich holte er die mit Wasser gefüllte Gießkanne und wässerte die Pflanzstelle ausgiebig.
Während des gesamten Pflanzvorgangs nahm Horst immer wieder wahr, wie sich das, was gerade geschah, für ihn anfühlte. Da war beispielsweise die Wärme der Sonne auf seiner Haut und da waren die Geräusche aus der Umgebung, aber auch die beim Pflanzen und Wässern. Horst erlebte das, was um ihn herum geschah, was er wahrnahm, und das, was er selbst tat, ganz bewusst.
Bei alldem erlebte Horst ein starkes Gefühl der Freude. Im ganz kleinen hatte er die Welt verändert. Sie war nicht mehr so wie vorher. Er hatte mit eigenen Händen einen neuen Zustand geschaffen. Zeit hatte auf einmal keine Bedeutung. Zeit und Ewigkeit schienen ineinander zu verschwimmen.
Erleben statt Konsumieren
Der Neurologe und Psychiater Viktor Frankl beschreibt Achtsamkeit aus einem etwas anderen Blickwinkel. Für Viktor Frankl hatte das Thema „Sinn“ bzw. „Lebenssinn“ große Bedeutung.
Um der Sinnhaftigkeit des eigenen, individuellen Lebens näherzukommen, ist für ihn „Erleben statt konsumieren“ einer der Hauptwege zum Lebenssinn. Erleben statt konsumieren bedeutet, die gesamte Umgebung, also vor allem die Natur und andere Menschen, bewusst zu erleben. Die Natur verändert sich im Lauf der Jahreszeiten und durch Sonne, Wind und Regen ständig. Sonnenaufgangs- und ‑untergangszeiten sind jeden Tag anders. Kurzum: jeden Tag lässt sich etwas Einzigartiges erleben. Und auch Begegnungen mit Menschen sind immer wieder anders. Erleben und an der Gegenwart festhalten gehören zusammen.
In Viktor Frankls Gedanken zu „Erleben statt konsumieren“ schwingt auch seine persönliche Lebensgeschichte mit. Mehr als zwei Jahre musste er in verschiedenen Konzentrationslagern verbringen. Während dieser Zeit musste er unsägliches Leid miterleben. Für ihn war Verdrängen keine Lösung. Er entschied sich für das Erleben.
In einen größeren Zusammenhang eingeordnet ist das bewusste Erleben im Hier und Jetzt die einzige Möglichkeit, das Leben zu vertiefen. Der Religionsphilosoph Martin Buber formulierte es so: „Du kannst dein Leben nicht verlängern, nur vertiefen, nicht dem Leben mehr Jahre, sondern den Jahren mehr Leben geben.“.
Jeder Augenblick ist einmalig und einzigartig. Es lohnt sich, ihn bewusst wahrzunehmen, an der Gegenwart festzuhalten. Horst erlebt es immer wieder.
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