„Sinn kann nicht gegeben, sondern muss gefunden werden.“
Viktor Frankl
Viktor Frankl (1905-1997) war ein österreichischer Neurologe und Psychiater. Er begründete die Logotherapie und Existenzanalyse, die vielfach auch als die „Dritte Wiener Schule der Psychotherapie“ bezeichnet wird.
Plötzlich in der Sinnkrise
Harald (Name geändert) geriet in eine tiefe persönliche Krise mit Symptomen einer mittelgradigen depressiven Episode. Er empfand seinen mangelnden geschäftlichen Erfolg als persönliche Niederlage. Er dachte an Suizid, zu dem es jedoch nicht kam. Im Gegenteil: die geschäftliche Situation verbesserte sich sogar wieder wie durch ein Wunder. Ein größerer Auftrag rettete das Unternehmen. Dadurch gewann Harald wieder Zuversicht und konnte seine depressive Phase überwinden.
Während dieser für ihn schweren Zeit dachte Harald nicht daran, nach seinem Lebenssinn zu fragen. Für ihn hatte das Leben in der von ihm so eingeschätzten Niederlage keinen Sinn mehr. Die Sinnfrage stellte sich nicht mehr.
Was hätte Harald Lebenssinn geben können? Oder hätte ihm eine Person Lebenssinn geben können? Sein Beruf konnte ihm offensichtlich den Lebenssinn nicht geben. Und eine Person konnte ihm diesen auch nicht geben. Es ist so: Sinn kann nicht gegeben werden.
Oft ist es eine Lebenskrise, die dazu zwingt, den individuellen Lebenssinn zu finden. Dann erst wird oft erkannt, dass man bisher über den Sinn seines Lebens noch nicht hinreichend nachgedacht hat.
Im Nachhinein ließe sich Haralds Sinn des Lebens stark verkürzt etwa so ausdrücken: beruflich erfolgreich sein. Dieses Sinngebäude war zusammengestürzt. Wahrscheinlich hätte er die Lebenskrise besser bewältigen können, wenn er sich schon früher intensive Gedanken über seinen Lebenssinn gemacht hätte. Dann hätte er wahrscheinlich weniger auf den beruflichen Erfolg fokussiert. Und dann hätte er wahrscheinlich auch eher den Sinn darin finden können, in seiner schwierigen Lebenssituation entweder durchzuhalten oder aber einen anderen Weg zu gehen. Das Wichtigste: er hätte sich nicht selbst infrage gestellt und wäre nicht auf den Gedanken gekommen, dass sein Leben keinen Sinn mehr hat.
Harald blieb keine andere Möglichkeit als seinen Lebenssinn selbst herauszufinden. Dabei konnte ihm niemand helfen. Schließlich musste er am Ende dieses Findungsprozesses von seinem Lebenssinn zutiefst überzeugt sein. Und der Lebenssinn musste genau zu ihm und seinen Überzeugungen, die sich in seiner Krise auch veränderten, passen.
Wie kann es zu einer Sinnkrise kommen?
Die Krise, die Harald durchlebte, lässt sich als Sinnkrise bezeichnen. Harald erlebte und durchlitt eine Phase der Orientierungs- und Haltlosigkeit, hervorgerufen durch die kritische berufliche Situation, verbunden mit existenziellen Problemen. Seine eheliche Beziehung war jedoch nach wie vor intakt. Seine Ehefrau wusste um die schwierige Situation und hielt zu ihm.
Die Sinnkrise überschattete Haralds Leben. Trotz der Unterstützung seiner Ehefrau hatte er den Eindruck, sein Leben wäre sinnlos geworden und es lohne sich für ihn nicht mehr weiterzuleben. Er dachte sogar, dass das Leben für seine Frau ohne ihn leichter wäre.
Vor einer Sinnkrise ist im Grunde niemand geschützt. Existenzielle Probleme, einschneidende Lebensereignisse (wie beispielsweise eine schwere oder gar lebensbedrohliche Erkrankung oder ein schwerer Unfall, der zu körperlichen Einschränkungen (z. B. Querschnittslähmung) führt) oder tiefe Enttäuschungen (wie beispielsweise der Treuebruch der Partnerin oder des Partners) können jeden Menschen treffen. Eine depressive Episode kann das Leben sogar als nicht mehr lebenswert erscheinen lassen.
Wie fühlt man sich in einer Sinnkrise?
Typische Anzeichen einer Sinnkrise sind Gefühlsleere (das Gefühl des Nicht-Fühlen-Könnens), keine Freude mehr am Leben, kaum noch oder keine Hoffnung mehr auf Verbesserung der Situation, zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber bisher wertgeschätzten Dingen oder Lieblingsaktivitäten, zunehmendes Desinteresse an anderen Menschen und in der Folge Rückzug aus sozialen Beziehungen. Welche Symptome tatsächlich auftreten ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich.
Gefühlsleere muss nicht bedeuten, dass man überhaupt und absolut keine Gefühle mehr empfindet. Gefühle wie Scham, Traurigkeit und Schuld, können durchaus erlebt werden. Auch bei Harald war das so.
In einer Sinnkrise leidet oft auch der Körper. Die innere Anspannung kann zu Schlafstörungen führen. Man wacht mitten in der Nacht auf, beginnt zu grübeln, wälzt sich unruhig im Bett hin und her. Als mögliche Folge ist man während des Tages müde und gereizt.
Während einer Sinnkrise werden oft Dinge infrage gestellt, die lange Zeit selbstverständlich zu sein schienen. Auch bei Harald war es so. Seinen Lebenssinn sah er vor seiner Sinnkrise zu einem bedeutenden Teil darin, eine Existenz aufzubauen, beruflichen Erfolg zu haben, durch Leistung zu überzeugen sowie für seine Familie und ein Leben in materieller Sicherheit zu sorgen.
Nicht zuletzt litt Haralds Selbstwertgefühl. Er hatte seinen „Wert“ mit seinem beruflichen Erfolg verknüpft. Durch diese Verengung bedingt stellte er gewissermaßen sich selbst infrage.
Harald „funktionierte“ noch. Er tat das, was getan werden musste. Doch die früher erlebte Begeisterung für seine berufliche Tätigkeit war verschwunden. Die Betonung lag auf „funktionieren“.
Weshalb muss man den Sinn selbst finden?
Wenn Sinn nicht gegeben werden kann, bleibt logischerweise nur die Möglichkeit, den Sinn selbst zu finden. Doch wenn für einen Moment dennoch davon ausgegangen würde, dass Sinn tatsächlich gegeben werden kann, stellt sich unwillkürlich die Frage: Wer könnte als Sinngeber in Betracht kommen?
Haben alle Menschen denselben Sinn des Lebens? Falls ja, wäre eine übernatürliche und allwissende Instanz (Gott) ein möglicher Sinngeber. Doch schon stellt sich die Anschlussfrage: Welcher Gott? Wäre es der Gott des Christentums, des Islam oder einer anderen Religion?
Wenn einem jeden Menschen, von wem und auf welche Art und Weise auch immer, ein individueller Lebenssinn vorgegeben bzw. verordnet werden würde, wäre der Mensch nicht mehr frei. Er könnte sich nicht mehr frei entfalten, sondern müsste sein Leben nach einer Direktive ausrichten und wäre fremdbestimmt.
Alternativ bleibt die Möglichkeit des individuellen Sinns. Letzten Endes ist es in der Konsequenz ein „Segen“, wenn jeder Mensch den individuellen Sinn selbst suchen und finden muss. Nur dann kann der Mensch sein psychisches Grundbedürfnis nach Autonomie und Kontrolle befriedigen.
Woran könnte sich der Sinn orientieren?
Wo fängt man bei der Sinnsuche an? Gibt es allgemein akzeptierte Orientierungspunkte, die man bei der Suche bedenken kann?
Theologen wie Nicht-Theologen weisen der Liebe einen sehr hohen Stellenwert zu. Der Theologe Dietrich Bonhoeffer formulierte so: „Da wo Liebe ist, ist der Sinn des Lebens erfüllt.“ Alfred Delp, ebenfalls Theologe, erweiterte diesen Gedanken: „Wenn durch einen Menschen ein wenig mehr Liebe und Güte, ein wenig mehr Licht und Wahrheit in der Welt war, dann hat das Leben einen Sinn gehabt.“ Hermann Hesse, Schriftsteller, Nicht-Theologe, richtet den Blick ebenfalls sehr deutlich auf die Liebe: „Den Sinn erhält das Leben einzig durch die Liebe. Das heißt: Je mehr wir zu lieben und uns hinzugeben fähig sind, desto sinnvoller wird unser Leben.“ Charles Dickens, Schriftsteller, Nicht-Theologe, drückt es indirekt und mit anderen Worten aus: „Niemand ist nutzlos in dieser Welt, der einem anderen die Bürde leichter macht.“ Weshalb würde man einem Anderen die Bürde leichter machen wollen, wenn nicht aus Liebe?
Diese Gedanken können als Ausgangspunkt für das Suchen und Finden des individuellen Sinns des Lebens dienen. Liebe ist ein allgemein geschätzter Wert, ja verkörpert sogar im Grunde ein ganzes Wertesystem. So ergeben sich beispielsweise Beziehungen zu „Vertrauen“, „Zuneigung“, „Mitgefühl“ und „Empathie“ bzw. „Einfühlungsvermögen“.
Wann sollte der Sinn gefunden werden?
Eine Lebenskrise ist kein guter Anlass, Sinn zu suchen und zu finden. Suchen und Finden bedeutet, dass man sich auf einen Weg machen muss, bedeutet im weitesten Sinne „Arbeit“. Und diese „Arbeit“ braucht ihre Zeit. Dennoch muss man diese „Arbeit“ oft nachholen, wenn die äußeren Umstände gerade nicht passen.
Wenn der individuelle Sinn des Lebens dem Leben Struktur und Richtung gibt, bietet es sich an, den Sinn so früh wie nur möglich zu finden. Doch wann ist der Mensch soweit psychisch gefestigt, dass er sich an diese Aufgabe machen kann? Wann kann er die Konsequenzen des Suchens und Findens überschauen?
Eine allgemeine Antwort auf diese Frage ist sicherlich nicht möglich. Jedenfalls erscheint es als sinnvoll, das Thema „Sinn des Lebens“ bereits im Schulunterricht zu behandeln, wie es in Fächern wie „Ethik“ oder „Lebenskunde“ (oder andere sinnentsprechende Bezeichnung) auch der Fall ist.
Was wäre, wenn der Sinn in den ruhigen Zeiten des Lebens gesucht und gefunden wird? Wäre Haralds Leben anders verlaufen, wenn er sich schon vor seiner Krise intensive Gedanken um seinen Lebenssinn gemacht hätte? Darüber lässt sich nur spekulieren. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass er in der Sinnkrise widerstandsfähiger gewesen wäre, ist nicht von der Hand zu weisen.
Sehr wahrscheinlich hätte Harald seinen beruflichen Misserfolg anders eingeordnet. Die geschäftlichen Probleme wären dieselben gewesen, aber sie hätten nicht das Gewicht gehabt, das er ihnen zuwies. Er hätte, wenn es denn wirklich zum Scheitern gekommen wäre, die Situation besser akzeptieren können und irgendwie wieder neu und anders angefangen.
Sinn finden mitten in schwierigen Lebenssituationen?
Christian (Name geändert) hatte von seinem Arzt eine Einweisung ins Krankenhaus zur operativen Verkleinerung des Magens bekommen. Er litt unter Fettleibigkeit (Adipositas), wog fast mehr als doppelt so viel wie er eigentlich wiegen sollte. Christian wollte die Operation angesichts der Folgewirkungen einer Magenverkleinerung vermeiden. Allerdings wurde dann eine radikale und dauerhafte Umstellung seiner Ernährungsgewohnheiten unbedingt notwendig.
Was wollte Christian? Es gab nur zwei Möglichkeiten: die Operation oder die tiefgreifende Ernährungsumstellung. Würde er Sinn finden, bisher Gewohntes aufzugeben, um durchhalten zu können? Er fand den Sinn, hielt seine Ernährungsumstellung konsequent durch und verlor innerhalb eines halben Jahres rund ein Fünftel seines Gewichts. Die Operation war überflüssig geworden.
Viktor Frankl, Autor des Zitats, war einige Jahre in verschiedenen Konzentrationslagern inhaftiert. Er musste miterleben, dass viele seiner Mitgefangenen die unmenschlichen Bedingungen nicht ertragen konnten und starben. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Häftlinge lag beispielsweise im Konzentrationslager Auschwitz, einem der sogenannten Vernichtungslager, nur zwischen vier Wochen und drei Monaten.
In seinem Buch „… trotzdem Ja zum Leben sagen – ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“ beschreibt Viktor Frankl, dass die Überlebenschance höher war, wenn die Häftlinge Hoffnung, einen Sinn oder ein Ziel hatten, das ihnen die Kraft zum Weiterleben gab. „Wehe dem […], dem der Sinn seines Daseins entschwand – und damit jedweder Sinn eines Durchhaltens. Solche Leute, die auf diese Weise völlig haltlos geworden waren, ließen sich alsbald fallen.“
Viktor Frankl gab die Vorstellung, in Zukunft Vorlesungen über die Auswirkungen des Lagers auf die Psyche zu halten, die entscheidende Kraft zum Überleben. So fand er für sich den Sinn zum Durchhalten.
Kann sich der Sinn im Lauf des Lebens verändern?
Was passiert, wenn der Sinn gefunden wurde? Ist das Leben dann auf „Autopilot“ geschaltet? Keineswegs! Es mag durchaus sein, dass der individuelle Lebenssinn schon früh im Leben gefunden wurde. Doch dann kann es dazu kommen, dass dieser Sinn infragestellt wird, oft mit einer schwierigen Lebenssituation als Auslöser.
Auch körperliche Veränderungen können mehr oder weniger direkt Auslöser für eine neue Sinnsuche sein. Die sogenannte „Midlife Crisis“, eine Art Sinnkrise rund um die Lebensmitte, ist dafür ein typisches Beispiel.
Wohl eher selten wird ein Mensch seinen Lebenssinn schon früh im Leben finden und dann nie wieder infrage stellen. Individuelle Werte und Lebensüberzeugungen werden sich sehr wahrscheinlich im Lauf des Lebens verändern. In der Konsequenz erscheint es nur folgerichtig, den individuellen Lebenssinn zumindest an wichtigen Weichenstellungen des Lebens zu hinterfragen und neu zu finden.
* Sie können nach Text suchen, der in Zitaten vorkommt (Beispiele: „Glück“, „hoff“)