„Wie ich entscheide, eine Situation zu betrachten, beeinflusst ganz wesentlich, ob ich die Macht habe, sie zu ändern oder ob ich die Dinge verschlimmere.“
Marshall B. Rosenberg
Marshall B. Rosenberg (1934-2015) war ein US-amerikanischer Psychologe. Er entwickelte das Konzept der Gewaltfreien Kommunikation (GFK), englisch: Nonviolent Communication (NVC). Dieses soll Menschen ermöglichen, dergestalt miteinander umzugehen, dass der Kommunikationsfluss auf Grundlage wertschätzender Beziehung zu mehr Vertrauen und Freude am Leben führt. 1984 gründete Rosenberg das gemeinnützige Center for Nonviolent Communication. Als Mediator war er international tätig.
Entscheidungssituationen – eine kleine Geschichte
Manchmal findet man sich völlig unerwartet und unvorbereitet in einer Situation wieder. Man muss sich entscheiden, wie man die Situation einschätzt, und dann reagieren. Die folgende Geschichte veranschaulicht eine solche Entscheidungssituation.
Eines Tages, ich war gerade das erste Jahr in der Schule, sah ich ein Kind aus meiner Klasse nach Hause gehen. Sein Name war Michael. Es sah so aus, als würde er alle seine Bücher mit sich tragen. Ich dachte mir: „Warum bringt wohl jemand seine ganzen Bücher an einem Freitag nach Hause? Das muss ja ein richtiger Dummkopf sein.“ Mein Wochenende hatte ich schon verplant mit meinen Freunden. Also zuckte ich mit den Schultern und ging weiter.
Als ich weiterging, sah ich eine Gruppe Kinder in seine Richtung laufen. Sie rempelten ihn an, schlugen ihm seine Bücher aus den Armen und schubsten ihn so, dass er in den Schmutz fiel. Seine Brille flog durch die Luft, und ich beobachtete, wie sie etwa drei Meter neben ihn im Gras landete. Er schaute auf und ich sah diese schreckliche Traurigkeit in seinen Augen.
Mein Herz wurde weich. Ich ging zu ihm hinüber. Er kroch am Boden umher und suchte seine Brille, und ich sah Tränen in seinen Augen. Als ich ihm seine Brille gab, sagte ich: „Diese Typen sind Blödmänner“. Er schaute zu mir auf und sagte: „Danke!“. Ein großes Lächeln zierte sein Gesicht. Es war eines von jenen Lächeln, die wirkliche Dankbarkeit zeigten. Ich half ihm, seine Bücher aufzuheben und fragte ihn, wo er wohne.
Es stellte sich heraus, dass er in meiner Nähe wohnt. Also fragte ich ihn, warum ich ihn vorher nie gesehen habe. Er erzählte mir, dass er zuvor auf eine Privatschule ging. Ich hätte mich nie mit einem Privatschulkind abgegeben. Den ganzen Nachhauseweg unterhielten wir uns. Und ich trug seine Bücher. Er war eigentlich ein richtig cooler Kerl.
Ich fragte ihn, ob er Lust hätte, mit mir und meinen Freunden am Samstag Fußball zu spielen. Er sagte zu. Wir verbrachten das ganze Wochenende zusammen und je mehr ich Michael kennenlernte, desto mehr mochte ich ihn. Und meine Freunde dachten genauso über ihn.
Es begann der Montagmorgen, und auch Michael mit dem riesigen Bücherstapel war wieder da. Ich hielt ihn an und sagte: „Oh Mann, mit diesen ganzen Büchern wirst du eines Tages noch mal richtige Muskeln bekommen“. Er lachte und gab mir einen Teil der Bücher.
Während der nächsten vier Jahre wurden Michael und ich richtig gute Freunde. Als wir älter wurden, dachten wir über den weiteren Ausbildungsweg nach.
Michael entschied sich für Wien und ich mich für Salzburg. Ich wusste, dass wir immer Freunde sein werden, und diese Kilometer zwischen uns niemals ein Problem darstellen würden. Er wollte Arzt werden und ich hatte vor, eine Fußballer-Karriere zu machen.
Es kam der Abschlusstag an unserer Schule. Ich war froh, nicht die Abschlussrede unserer Klasse halten zu müssen. Michael war der Abschiedsredner.
Michael sah großartig aus. Er war einer von denen, die während der Schule zu sich selber finden und ihren eigenen Stil entwickeln. Er hatte mehr Verabredungen als ich und alle Mädchen mochten ihn. Manchmal war ich richtig neidisch auf ihn. Heute war einer dieser Tage. Ich konnte sehen, dass er wegen seiner Rede sehr nervös war.
Ich gab ihm einen Klaps auf den Hintern und sagte: „Hey, Großer, du wirst großartig sein!“. Er sah mich mit einem jener Blicke (die wirklich dankbaren) an und lächelte. „Danke“, sagte er.
Als er seine Rede begann, räusperte er sich kurz und fing an. „Der Abschluss ist eine Zeit, um denen zu danken, die dir halfen, diese schweren Jahre zu überstehen: Deinen Eltern, deinen Lehrern, deinen Geschwistern, vielleicht einem Trainer …, aber am meisten deinen Freunden. Ich sage euch, das beste Geschenk, das ihr jemandem geben könnt, ist eure Freundschaft. Lasst mich euch eine Geschichte erzählen“.
Ich schaute meinen Freund etwas ungläubig an, als er von dem Tag erzählte, an dem wir uns das erste Mal trafen. Er hatte geplant, sich an diesem Wochenende umzubringen. Das Leben schien ihm nicht mehr lebenswert. Er erzählte weiter, dass er seinen Schrank in der Schule ausgeräumt hatte, so dass seine Mutter es später nicht tun müsste und trug seine Sachen nach Hause.
Er schaute mich an und lächelte. „Gott sei Dank, ich wurde gerettet. Mein Freund hat mich von dieser unsäglichen Sache bewahrt. Ohne es zu wissen. Er war einfach nur da.“.
Ich konnte spüren, wie die Menge der Zuhörer den Atem anhielt als dieser gutaussehende, beliebte Junge uns von seinem schwächsten Augenblick im Leben erzählte. Und ich bemerkte, wie seine Mutter und sein Vater lächelnd zu mir herübersahen, genau dasselbe, dankbare Lächeln. Niemals zuvor spürte ich solch eine tiefe Verbundenheit.
Entscheidungsmacht – man hat sie
Diese Geschichte, die von einem unbekannten Autor stammt, illustriert Entscheidungsmacht. Man wird vielleicht Zeuge eines Geschehens und dann trifft man, ob man will oder nicht, eine Entscheidung.
Der Name des Jungen, der diese Geschichte erzählt, ist nicht bekannt. Hier sei er Paul genannt. Hatte Paul die Wahlfreiheit, die Situation für sich zu betrachten und zu bewerten? Ja, die hatte er zweifellos. Und dann musste er entscheiden. Hatte er die Macht, das Vermögen, für Michael etwas zu tun? Ja, die hatte er auch. Und dann blieben Paul zwei Möglichkeiten: er konnte den am Boden liegenden Michael weiterhin ignorieren oder er konnte sich um ihn kümmern.
Michael zu ignorieren hätte in der Tat bedeutet, die Dinge zu verschlimmern. Paul wäre ein weiterer in der Reihe der Menschen gewesen, die Michael links liegen lassen. Und sein Verhalten hätte Michael vielleicht noch darin bestärkt, seinem jungen Leben ein Ende zu setzen.
Entscheidungen können eine große Tragweite haben
Diese Geschichte veranschaulicht, dass man nicht nur Entscheidungs-, sondern auch Handlungsspielraum hat. Der Neurologe und Psychiater Viktor Frankl drückt es so aus: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“ Und man hat nicht nur Entscheidungs- und Handlungsspielraum, sondern auch Entscheidungs- und Handlungsmacht.
Eine kleine Geste, ein gutes Wort, kann sich prägend auswirken und das Leben eines Menschen entscheidend verändern, zum Guten wie zum Bösen. Die Geschichte bringt zum Ausdruck, dass Paul unwissentlich in eine Entscheidung über Leben und Tod eingriff. Erst mehrere Jahre später wurde klar, dass Paul bei Michael eine Lebensweiche gestellt hatte. Hätte Paul damals nicht helfend eingegriffen, hätte Michael wohl sein Vorhaben umgesetzt und in jungen Jahren Selbstmord begangen.
Und das reale Leben?
Handelt es sich nur um eine rührselige Geschichte? Sieht das reale Leben nicht vollständig anders aus? Mitnichten! Immer wieder wird man in Situationen hineingezogen, die einem selbst vielleicht völlig unbedeutend erscheinen. Man kann die Tragweite (noch) nicht erkennen. In Wirklichkeit kann, wer weiß, vielleicht sogar Leben und Tod davon abhängen.
In der Geschichte ließ sich Paul von Michaels Situation, als der auf dem Boden kriechend nach seiner Brille suchte, berühren. Und dann entschied er sich, wie er die Situation betrachten würde. Und dann entschied er sich, wie er handeln und was er sagen würde.
Für Paul war seine Hilfe nicht mit „Kosten“ in Form von persönlichen Nachteilen verbunden Im Gegenteil: in der Geschichte entwickelte sich eine enge Freundschaft, die beide bereicherte. Doch wie verhält es sich, wenn negative Konsequenzen nicht ausgeschlossen sind? Wie hätte Paul reagiert, wenn ihm bei seinem Handeln selbst eine Art Ausgrenzung gedroht hätte? Vielleicht ging ihm – um die Geschichte etwas auszumalen – folgender Gedanke durch den Kopf: „Wenn ich dem Kerl helfe, halten mich meine Freunde für ein Weichei. Soll er doch selbst schauen, wie er klarkommt.“.
Das reale Leben ist voll von Entscheidungssituationen, die das Handeln oder Nichthandeln bestimmen. Zwei seien kurz in Form von Szenarien dargestellt.
Unterstützung anbieten – oder doch nicht?
Manchmal befindet man sich in einem mehr oder weniger ausgeprägten Zwiespalt, der das persönliche „Standing“ berührt. Ein Szenario: Eine Kollegin bekam vom Vorgesetzen eine Aufgabe übertragen, die noch unbedingt an diesem Tag zu erledigen ist. Man nimmt wahr, dass die Kollegin zeitlich in Bedrängnis ist und weiß auch, dass sie als Alleinerziehende relativ pünktlich nach Hause zu ihrem Kind muss. Gleichzeitig meldet sich eine innere Stimme. Sie flüstert: „Wenn sie die Arbeit nicht fertigbekommt, ärgert das den Chef und wahrscheinlich stehe ich dann dafür bei ihm besser da.“.
Wie betrachtet man die Situation? Und wie entscheidet man sich? Bietet man Unterstützung an, wenn man es kann, oder trägt man dazu bei, die Situation für die Kollegin schlimmer zu machen?
Die Gelegenheit zur Rache nutzen?
Manchmal bleibt für lange Überlegungen, wie man eine Situation betrachtet, keine Zeit. Ein Szenario: Ein unbeliebter Kollege, der für seinen ausgeprägten Egoismus bekannt ist, muss wegen eines Notfalls Hals über Kopf nach Hause. Er kann einen begonnenen wichtigen Vorgang nicht innerhalb der vorgegebenen Zeit abschließen. Wie reagiert man spontan? Betrachtet man die Situation als eine überaus willkommene Gelegenheit zur Rache?
Man hätte durchaus die Macht, die Situation zu ändern, indem man den Vorgang entweder selbst zu Ende bearbeitet oder dafür sorgt, dass jemand anderes dies erledigt. Man könnte aber auch die Situation für den Kollegen verschlimmern, indem man sich ein Alibi für sein Nichthandeln verschafft. Schließlich will man beim Chef nicht selbst schlecht dastehen und in den Geruch der Unkollegialität kommen, andererseits möchte man nur allzu gerne die Gelegenheit nutzen, dem unbeliebten Kollegen etwas heimzuzahlen.
Sich berühren lassen
Tagtäglich findet man sich in Situationen wieder, die eine innere Stellungnahme hervorrufen. Oft ist nicht von vornherein klar, wie eine Situation zu beurteilen ist. Lässt man sich von einer Situation innerlich berühren? Oder wehrt man ab und versucht, die Situation rein verstandesmäßig zu bewerten? Ob man sich innerlich berühren lässt oder nicht wirkt sehr stark darauf ein, wie man eine Situation betrachtet. Dann stellt sich die Frage, ob man die Macht hat, eine Situation zu ändern – und ob man diese Macht zur Geltung bringen möchte.
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